Vor ungefähr zwanzig Jahren erklärte eine ambitionierte Kunstlehrerin an einem Münchner Gymnasium einer fünften Klasse, dass Schwarz eigentlich gar keine Farbe sei – und sorgte damit bei der Klasse für Staunen. "Schwarz", sagte sie, "ist nur die Abwesenheit von Licht."
Rubén Salgado Escudero
Als Kind konnte ich damit nicht viel anfangen, aber als ich jetzt mit dem spanischen Fotografen Rubén Salgado Escudero sprach, habe ich mich wieder an meine Kunstlehrerin erinnert. Die Abwesenheit von Licht können wir uns, hier und heute, kaum mehr vorstellen. Wir knipsen es einfach an, fertig. Stromausfall, vollkommene Dunkelheit, das ist in unserem Kulturkreis selten geworden.
"Gott sprach: Es werde Licht!", heißt es in der Schöpfungsgeschichte. "Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war." Ja, Licht ist in der Regel sehr gut. Ohne Licht kein Leben, kein Werden und kein Sein. Der Schöpfer machte das Licht an, noch bevor er sich um Wasser kümmerte.
Etwa 800 Millionen Menschen auf der Welt leben ohne elektrisches Licht. Sie haben Sonne, sie haben Feuer, aber keinen Schalter zum An- und Ausknipsen. Solarlampen können ihr Leben verändern. Salgado Escudero begegnete den Solarlampen das erste Mal im Jahr 2013, als er für ein UN-Projekt in Myanmar arbeitete und immer wieder in ländliche Gegenden kam, in denen die Menschen kein elektrisches Licht hatten. "Ich fühlte mich wie in einer anderen Epoche. Die Menschen gingen mit dem Sonnenuntergang ins Bett, spätestens um acht Uhr. Und wenn die Sonne wieder aufging, um vier, fünf Uhr morgens, standen sie wieder auf", erzählt Salgado Escudero am Telefon.
Eines Tages bemerkte er auf einem Haus Solarpanele, also sprach er die Familie an und fragte, wie sich das Leben mit Solarlicht vom Leben davor unterschied. Sie baten ihn zu sich ins Haus und kamen mit dem Fotografen ins Gespräch. "Es war bereits Abend, und ich hatte den Blitz meiner Kamera vergessen, wollte aber sehr gern ein Bild von der Familie machen. Also haben wir das Solarlicht so hindrapiert, dass ich ein Foto von ihnen aufnehmen konnte. Beim Ansehen des Bildes habe ich danach gemerkt, dass nicht nur die Farbtemperatur, sondern auch die Qualität des Fotos eine andere ist." Salgado Escudero hatte ein neues Projekt gefunden und zog, "nach einer Menge Versuchen und Irrtümern mit der Belichtung", durch Myanmar auf der Suche nach Menschen für seine "Solar Portraits". "Licht", sagt Salgado Escudero, "ist für mich ein Menschenrecht."
Die Fotos, die hier abgedruckt sind, wurden noch nie vorher in Deutschland veröffentlicht. Sie sind sorgsam inszeniert und nur mithilfe von Solarlampen beleuchtet. Salgado Escudero will, dass man sich die Inszenierung bewusst macht, er spielt damit: Indem er die Deckenleuchten in dem Krankenhaus, in dem die junge Mutter wenige Stunden zuvor ihr Kind geboren hat, ausknipst und sie eine Solarlampe halten lässt. Oder indem er die indischen Fischer ein Solarlicht an einem Bambusstock über die Kamera halten lässt und sein Publikum damit austrickst – ist das eine Solarlampe? Oder doch der Mond?
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Seine "Solar Portraits" bilden den Alltag von Menschen ab, der sich dank der Anwesenheit von Solarlichtern – meistens – zum Besseren verändert hat. Die Fischer in Odisha, Indien, fischen dank des Solarlichts noch vor der Dämmerung und bringen mehr Fische nach Hause. In dem Krankenhaus, in dem die junge ugandische Mutter wenige Stunden zuvor ihr Kind bekommen hat, ist das Solarlicht unter Umständen lebensrettend, denn Stromausfälle sind dort keine Seltenheit. Und es geht auch weniger dramatisch: Die Männer in Kalagala, Uganda, können ganz einfach nach der Arbeit noch Poolbillard spielen, auch wenn es um sie herum schon dunkel ist.
Aber ist künstliches Licht denn unbedingt eine Verbesserung? Werden da nicht die natürlichen Rhythmen in den entlegenen Ortschaften gestört, die Menschen aus jahrhundertealten Gewohnheiten herausgerissen – mit dem Mond ins Bett gehen, mit der Sonne aufstehen? Hat das menschengemachte Licht nicht den Kapitalismus im Gepäck? "Ich werde das oft gefragt", sagt Salgado Escudero, "und ich würde ja gerne sagen, ja, da gab es diesen einen alten Mann in Myanmar, der gesagt hat, ich verfluche das Solarlicht als Teufelszeug – oder Ähnliches. Aber den gab es nicht." Und er fügt hinzu: "Es ist ja nicht so, als habe man den Menschen das Feuer gebracht oder eine Erfindung, die sie noch gar nicht kannten. Wo sie früher mit Kerzen oder giftigen Kerosinlampen gearbeitet haben, haben sie jetzt eine ungefährliche Lichtquelle." Touché. Bei den Kindern, die den Sari weben, beschönigt Salgado Escudero nichts: "Natürlich ist es wahrscheinlich, dass sie zu unwürdigen Bedingungen arbeiten mussten." Sein Bild macht auf eben diese Problematik aufmerksam.
Das Foto des indigenen Paares in Mexiko, das in seinem Schlafzimmer sitzt und sich in die Augen blickt, ist für den Fotografen ein ganz besonderes. Die Zurschaustellung von Intimität oder Verliebtheit sei in der indigenen Gemeinschaft extrem selten, sagt Salgado Escudero. "Ich war so froh, dass die beiden mitgemacht haben. Und auch ein bisschen froh, als es vorbei war und sie es sich nicht anders überlegt hatten."
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Weil Licht in Mitteleuropa etwas derart Selbstverständliches ist, gehen wir verschwenderisch damit um. Bei mir zu Hause brennt oft noch das Licht in einem Raum, den ich schon länger verlassen habe – "Festtagsbeleuchtung", wie meine Mutter das nennt. Und auch draußen wird alles heller, jedenfalls in der Stadt. Da kommen sogar die Amseln durcheinander und singen manchmal mitten in der Nacht. Man muss sie suchen, die Orte, die noch richtig dunkel sind, wo das Licht so abwesend ist, dass man die Sterne sieht, die Milchstraße erkennt oder im Sommer die Glühwürmchen.
Ja, im Sommer! Jetzt ist Januar, und wir hätten es doch langsam gern mal heller. "Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag." Sie werden jetzt länger, die Tage, auch wenn man es noch nicht so spürt.
Eine erste Version des Textes erschien im Januar 2021.