Dieses Embryo-Modell, ein sogenannter "Blastoid", sieht einem fünf bis sechs Tage alten echten Embryo extrem ähnlich
Dieses Embryo-Modell, ein sogenannter "Blastoid", sieht einem fünf bis sechs Tage alten echten Embryo extrem ähnlich
Alok Javali / Heidar Heidari / Theresa Sommer / Institute of Molecular Biology of the Austrian Academy of Sciences / AP via picture alliance
Wissenschaft
Rasanter Fortschritt bei der Stammzellenforschung
Wissenschaftlern ist es gelungen, künstliche Embryonen zu erzeugen. Sie entwickeln sich wie echte – nur nach der Definition sind es keine. Höchste Zeit, einen neuen gesetzlichen Rahmen zu entwickeln
Tim Wegner
08.08.2023
6Min

Im Labor gelingt es, künstlich erzeugte menschliche Stammzellen experimentell so zu behandeln, dass Zellgebilde entstehen, die menschlichen Embryonen ähneln. Als diese Nachricht über die Erfolge englischer und israelischer Forschungsteams kürzlich bekannt wurde, war das eine ziemliche Sensation.

Seit das Forschungsteam um Magdalena Zernicka-Goetz seinen Durchbruch öffentlich gemacht hat, haben weltweit diverse Forschungsgruppen nachgezogen und in Windeseile ihre Ergebnisse auf wissenschaftlichen Servern veröffentlicht. Ein Rennen ist im Gange, das zeigt, wie richtungsweisend die neuen Erkenntnisse sind. Es geht um Ruhm und um Patente. Nur in einem Bereich ist es ziemlich still: Wo bleibt die ethische Debatte?

Dass sie notwendig wäre, wird schon an der Sprache deutlich. Einige nennen die künstlich geschaffenen Zellhaufen "Embryomodelle" – und Wissenschaft wie Gesellschaft sind drauf und dran, die Bezeichnung unkritisch zu übernehmen. Doch der Begriff ist nicht zufällig gewählt. Denn die Forschung an diesen künstlichen Embryonen bewegt sich weltweit in einem rechtlichen Graubereich.

Das hängt damit zusammen, dass weltweit die Forschung an menschlichen Embryonen streng reglementiert ist. Bisher konnte man die allerersten Tage des menschlichen Lebens nur an echten Embryonen erforschen: befruchteten Eizellen, eigentlich dazu gedacht, irgendwann ein selbstständiger Mensch zu werden. Weltweit gingen deshalb den Gesetzen intensive ethische Debatten voraus über die Würde des Menschen, den Schutz des Individuums, das Recht auf Leben und darüber, ab wann Embryonen lebendige Individuen sind.

Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) empfiehlt seither grundsätzlich zunächst eine Erforschung menschlicher Embryonen maximal bis zu ihrem 14. Entwicklungstag. Daran halten sich bisher selbst die liberalen Länder wie Großbritannien oder Israel. Deutschland ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Hier ist die Forschung an menschlichen Embryonen wie auch an menschlichen geklonten Stammzellen verboten.

Die Entnahme von Eizellen von Frauen ist riskant

Doch das Interesse an dieser ersten Phase des Lebens ist groß, auch in Deutschland, wo manche Forscher fürchten, dass der Forschungsstandort Deutschland den Anschluss verliert, sollte die neue Methode verboten werden. Forschende erhoffen sich Erkenntnisse über Gendefekte, darüber, warum viele Schwangerschaften bereits im Anfangsstadium scheitern, und über Fehlbildungen an Herz und Hirn. Das zu erforschen, ist bisher schwierig.

Die Entnahme von Eizellen von Frauen ist ein riskanter und beschwerlicher Eingriff. Und in den meisten Ländern dürfen menschliche Embryonen nicht speziell zu Forschungszwecken erzeugt werden. In Großbritannien etwa greift man auf Spenden überzähliger Embryonen aus Fruchtbarkeitsbehandlungen zurück. Auch in Deutschland ist das auf Antrag und nach strenger Prüfung unter gewissen Umständen möglich. Zwar versucht man sich mit der Forschung an Embryonen von Mäusen zu behelfen, doch nicht alle Erkenntnisse sind auf den Menschen übertragbar. So bleibt die Entwicklung des menschlichen Lebens in den ersten Tagen eine ziemliche Blackbox.

Was echte und künstliche Embryonen noch trennt

Kein Wunder also, dass Forschende nach ethisch vertretbaren Alternativen suchen. Und dass sie sich jetzt bewusst bemühen, mit dem Begriff "Embryomodell" einen Unterschied zwischen echten und künstlich erzeugten Embryonen zu betonen. Es hängt also viel an der Frage, wie viel beide gemeinsam haben – und was sie trennt.

Folgendes ist bereits bekannt: Am 14. Tag ihrer Entwicklung sind echte Embryonen nicht mehr als ein winziges Häufchen pluripotenter Stammzellen. Das sind sogenannte Alleskönner, die sich in sämtliche Zelltypen des Körpers entwickeln können. Die Stammzellen für Herz und Hirn sind in diesem Stadium bereits angelegt. Bei künstlichen Embryonen ist das genauso. Laut Beschreibungen von Experten verhalten und transformieren sie sich auch auf gleiche Weise. Und auch sie scheinen sehr gut über den 14. Tag hinaus lebensfähig zu sein. Genau weiß man es nicht, denn zumindest vordergründig geben Entdecker und Entdeckerinnen an, dass sie die Experimente entsprechend den aktuellen Embryonengesetzen am 14. Tag abbrechen - obwohl sie ihre Gebilde als künstliches Modell bezeichnen. Durch Versuche mit Mäusen aber wissen Experten, dass künstliche Embryonen sich sehr weit entwickeln können.

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Einiges läuft aber auch anders: In der Phase, in der sich Embryonen in der Gebärmutter einnisten, prägen sie bestimmte Merkmale aus – die künstlichen Embryonen nicht. Forschende sagen, dass die künstlichen Gebilde sich unter anderem deswegen nicht in eine Gebärmutter einnisten würden. Zumindest gingen entsprechende Versuche mit Affen bislang schief.

Und während man die neue Methode mit künstlichen Mäuseembryonen bereits so erfolgreich anwendet, dass man sie für die Dauer einer halben Schwangerschaft im Reagenzglas untersuchen kann und viele sich noch weitere Fortschritte erwarten, so ist eine vollständige Entwicklung menschlicher Embryonen nicht möglich: Babys werden irgendwann zu groß, um rein über die Haut von der Nährlösung im Reagenzglas versorgt zu werden – man müsste eine Art Nabelschnur konstruieren. Das geht im Moment noch nicht.

Was Forschenden wohl aber am meisten Hoffnung bereitet, ist besonders ein Unterschied: die bisherige Definition des Embryos. Laut dem deutschen Embryonenschutzgesetz ist ein Embryo leicht vereinfacht gesagt: eine befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle. Am künstlichen Embryo ist nichts Eizelle. Und nichts ist befruchtet. Ist er also weniger schützenswert? Oder gar nicht?

Michele Boiani vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster forscht selbst an Mausembryonen und bringt es auf den Punkt, wenn er gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" sagt, dass die künstlichen Embryonen nicht als Modelle taugten, wenn sie nicht entwicklungsfähig seien. Wenn sie aber entwicklungsfähig seien, dann seien es keine Modelle – und wären also genauso schutzbedürftig wie Embryonen.

"Die Forschung an künstlichen Embryonen ist ein Graubereich" Malte Spielmann

Er ist es auch, der darauf hinweist, dass es sich bei der neuen Methode letztlich um eine neue Art des Klonens handelt. Denn um die künstlichen Embryonen zu erzeugen, werden zum Beispiel Hautzellen verwendet und in das Stadium der Alleskönner, der pluripotenten Stammzellen, versetzt.

Der Humangenetiker Malte Spielmann vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, der ebenfalls an Mausembryonen forscht, ist ähnlich vorsichtig: "Ich sage nicht, dass man die künstlichen Embryonen schützen muss", sagt er. "Aber wir müssen darüber nachdenken, wie wir damit umgehen wollen. Dass man bewusst die Bezeichnung 'Embryomodell' wählt, macht mich besorgt." Er fordert eine umgehende gesellschaftliche und politische Diskussion. "Die Forschung an künstlichen Embryonen ist ein Graubereich", sagt auch er. "Und wenn man den nicht klar regelt, wird irgendjemand das einfach machen."

Abgewogen werden müsste nach Spielmanns Ansicht auch, ob die neue Methode verhältnismäßig ist: Eine dringende Notwendigkeit dafür sieht er für die meisten Disziplinen nicht. Zumindest für die frühe Embryonalphase erwartet er keine Erkenntnisse, die im Vergleich zu denen aus der Mausforschung bahnbrechend wären. Und für jene Forscher, die sich für Fehlbildungen an Herz und Hirn oder anderen Organen interessieren, wäre erst das Stadium interessant, ab dem sich die Organe bilden. Das beginnt ab der 14. Woche, wenn längst das Herz schlägt (ab der dritten Woche), Gehirn und Wirbelsäule angefangen haben, sich zu formen (vierte Woche) und erste Rezeptoren für die Sinneswahrnehmung sich gebildet haben (siebte Woche). Dass jemals an menschlichen Embryonen geforscht werden darf, die sich in so einem fortgeschrittenen Stadium bewegen, liegt weitab jeder ethischen Debatte. Aber wie würde das für künstliche Embryomodelle bewertet werden?

Doch bislang scheint niemand in Deutschland eine Diskussion für nötig zu erachten. Freilich: Noch kann theoretisch nicht viel passieren. Vom "künstlichen Menschen" sind wir weit entfernt. Den zu schaffen sei auch gar nicht Ziel der Forschung, sagen Experten. Dennoch: Auch die 14-Tage-Regel des ISSCR war letztlich ein politischer Kompromiss, der Forschung ermöglichen und zugleich Lebensschützer beruhigen sollte. Am 14. Tag schlägt kein Herz und ist das Nervensystem noch nicht ausgebildet. Zugleich schien es damals unwahrscheinlich, dass Forscher Embryonen überhaupt bis zum 14. Tag im Reagenzglas am Leben erhalten konnten. Und es schien undenkbar, dass ein Embryo anders als durch die Befruchtung einer Eizelle entstehen könnte.

Der wissenschaftliche Fortschritt aber hat sich selbst übertroffen und anderes bewiesen, wie so oft. Das heißt: Wir müssen reden. Jetzt! Wir müssen unsere Gesetze überprüfen, das Leben und seine Anfänge neu betrachten und Details gegeneinander abwiegen. Ein sensibles Thema, das potenziell die Würde des Menschen und die Rechte des Individuums berührt, braucht eine offene und ausgewogene Debatte, in der Gesellschaft, der Politik und den Medien. Wir müssen reden. Und angesichts des Tempos der Forschung nicht nur einmal, sondern alle paar Jahre wieder.

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