Zwei Kinder sitzen auf einer Bank mit gesammelten Pilzen in der Hand
Sarah Zapf Pilzesammeln Kindheit
Sarah Zapf
Einmal über den Grenzbach und zurück
Gerade einmal 20 Minuten liegt die tschechische Grenze von meinem Heimatort entfernt. Heute zeugen nur die verlassenen Grenzschutzgebäude von einer anderen Zeit
Julian Leitenstorfer
27.07.2023

Gerade wird wieder viel über offene oder geschlossene Grenzen diskutiert. Als Nachwendekind kenne ich Grenzen in Europa kaum noch, ich bewege mich frei von einem zum nächsten Land. Seit dem Schengener Abkommen als internationales Übereinkommen sind die stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der meisten Mitglieder der EU weggefallen. Am 26. März 1995 schafften die ersten europäischen Staaten die Kontrollen ab, darunter auch Deutschland und vereinzelte Nachbarländer. Nach und nach kamen weitere dazu, heute sind es 22 der 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie einzelne Nicht-EU-Mitglieder, wie etwa Norwegen und die Schweiz. Fast 30 Jahre liegt der Wegfall von Grenzkontrollen somit schon zurück.

Ich wuchs im unmittelbaren Grenzgebiet zwischen zwei europäischen Staaten auf: Deutschland und Tschechien. Das Erzgebirge zieht sich auf beiden Seiten entlang, mitten an der Grenze. Geteilt sind die Orte oft nur durch einen schmalen Grenzbach, der sich hindurch schlängelt und über den man einfach mit etwas Anlauf springen kann.

Als ich ein Kind war, sind wir häufig auf die tschechische Seite, das einstige Böhmen, als Familie gefahren, um nicht nur Verschiedenes einzukaufen, sondern auch Ausflüge in der Natur zu unternehmen. In den Sommer- und Herbstmonaten ging es „in de Schwamme“, aus der Mundart übersetzt in die Pilze gehen. Mit großen Emaille Behältern, die an Milch Kannen erinnerten, sind wir auch zum Heidelbeeren Sammeln in den oft dichten und weitläufigen Wäldern im Grenzgebiet unterwegs gewesen. 

Grenzbach teilte die sächsisch-tschechische Grenze

Als Kind machte ich mir nur wenig Gedanken um Grenzschutz oder die Diskussion um das Wiedereinführen von Grenzen oder den bleibenden Wegfall. Einzig und allein wenn wir nach Oberwiesenthal auf dem Erzgebirgskamm mit dem Auto in Richtung des Grenzpostens fuhren, ich das blaue Schild „Česká republika“ am Straßenrand sah, erlebte ich auch als kleines Kind noch vereinzelte Kontrollen, wenn wir von Tschechien zurück nach Deutschland fuhren. Dabei ging es aber stichprobenartig häufig um die zulässige Höchstmenge der gekauften Produkte oder auch der Drogenhandel von synthetischen Substanzen wie Crystal Meth.

Tschechien ist erst 2007 Teil des Schengen-Raums geworden - und damit viele Jahre später als Deutschland. Damals war ich 14 Jahre alt. Die Staatsgrenze zwischen den beiden Ländern ist immerhin mehr als 800km lang, von Zittau in der sächsischen Oberlausitz bis hin zum Pleckensteiner Wald in Niederbayern. Schon lange gibt es keine Grenzkontrollen mehr, Reisedokumente sind folglich auch nicht nötig. Die einstigen Grenzkontrollstationen mit den grauen Gebäuden und den Wachhäuschen sind seither ungenutzt und der Verwahrlosung ausgesetzt. 

Reisefreiheit kannten meine Eltern oft nur aus Erzählungen

Jedes Mal, wenn ich durch Tschechien über den Erzgebirgskamm in Richtung Karlsbad und dann über die bayerische Grenze fahre, wird mir der Wert meiner Reisefreiheit bewusst. Für mich als Nachwendekind sind europäische Kontrollen nur noch eine leise Erinnerung. Für meine Familie war die damalige DDR-Grenze über viele Jahrzehnte hinweg deutlich spürbar, Reisefreiheit kannte man nur von Erzählungen aus dem Westen oder wenn man selbst nach reichlich Bemühung von Kontakten im Ort und einer großen Portion Glück einen „Auslandsbesuch“, etwa anlässlich eines Geburtstages oder einer Hochzeit, in Westdeutschland gestattet bekam.

Ich habe mich oft gefragt, wieso nicht viel mehr Menschen damals über Tschechien aus der DDR geflüchtet sind. Die Grenze zur damaligen Tschechoslowakei (CSSR) war weniger gesichert als die gleiche Grenze kurz nach der Wende. Trotzdem verliefen viele Fluchtversuche von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern erfolglos, da sich dieser einstige kleine Eiserne Vorhang weiter im Süden entlang der tschechischen Grenze fortsetzte und kaum Aussicht auf Erfolg bot. Eine meiner Tanten väterlicherseits ist schließlich im Sommer 1989, der großen Flucht in der DDR, dem sogenannten paneuropäischen Picknick, über Ungarn in den Westen gereist. Die Sicherungsanlagen zwischen Österreich und Ungarn waren zu jenem Zeitpunkt bereits in Teilen abgerissen. Auslieferungen zurück an die DDR durch Ungarn passierten zunehmend weniger. Alleine im Juli und August 1989 verließen mehr als 50.000 Menschen die DDR. Mehr als 120.000 Menschen stellten in dem Sommer einen Ausreiseantrag. Meine Tante lebt heute noch in Westdeutschland. 

Mich erinnert der momentane öffentliche Diskurs rund um den EU-Grenzschutz in Teilen an die familiäre Geschichte meiner Familie. Auch wenn meine Familie sich nicht zur Flucht entschied, hätten sie sicher auch etliche gute Gründe gehabt, der DDR den Rücken zu kehren und den Fluchtversuch zu wagen - spätestens im Sommer 1989. Heute sind wir schon lange ein vereintes Land. Über Grenzkontrollen müssen wir uns nur noch wenig Gedanken machen. Vergessen sollten wir bei unserer eigenen Reisefreizügigkeit nie die Menschen, die sich gerade in diesen Tagen auf den beschwerlichen Weg machen, selbst ein Stück Freiheit zu erlangen. 

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Kolumne

Sarah Zapf

Sarah Zapf kommt aus Annaberg-Buchholz in Sachsen. Der untergegangene Staat prägte Sarahs Kindheit, ihr Familienleben, ihre Jugend. Davon, und von ihrem aus Tschechien stammenden Großvater erzählte sie von Dezember 2022 bis Dezember 2023.