Zwei Kriegsfotos aus einer Zeitschrift abfotografiert
Zwei Kriegsfotos aus einer Zeitschrift abfotografiert
Tamriko Sholi
Akzeptiere dein neues "Ich"
Ich war schokiert, wie sehr mich der Krieg in der Ukraine in nur wenigen Wochen verändert hat. Ich sah das, als ich meine vor zwei Monaten aufgenommenen Fotos fand.
privat
02.05.2023

Im April 2022 erfuhr die Weltöffentlichkeit, welche Verbrechen rund um Kiew verübt wurden: in Orten Butscha, Irpin, Gostomel und anderen. Gefolterte Menschen in Kellern, ermordete Kinder, Leichen von Zivilisten in den Straßen… Mehr, als vierhundert Menschen wurden in Massengräbern gefunden. Ganze Familien wurden getötet: junge Eltern, die erst gestern ihre Kinder friedlich ins Bett gebracht und Pläne geschmiedet hatten, wohin sie im Sommer in den Urlaub fahren sollen. Massenmord an unschuldigen Menschen, Kindern, mitten in Europa im 21. Jahrhundert.

Ich werde diesen Tag nie vergessen. Ich hatte einen Termin in der Nähe der Frankfurter Innenstadt mit einer Person, die mir bei der Jobsuche helfen konnte. In dem Moment, als ich aus der U-Bahn auf die Straße trat, bekam Ich Fotos dieser Verbrechen und dieser getöteten Menschen über Messenger geschickt und hatte das Gefühl, dass mein Körper auf eine Temperatur von Minus 100 Grad heruntergekühlt wird. So ein Gefühl habe ich noch nie vorher erlebt. Das waren keine Bilder aus dem Kino, sondern von dort, wo ich mich oft mit Freunden getroffen, Kaffee getrunken und Picknicks gemacht habe. Mir wurde schlecht, und ich hatte einen Wutanfall. Ich schluchzte lange Zeit direkt auf der Straße, wo die Leute um mich herum gingen. Etwas später waren die gleichen Bilder überall: Alle TV-Sender und Social Media-Kanäle zeigten sie: “Massaker von Bucha”, wie es in der Presse später genannt wurde.

Bin ich es wirklich?

An den nächsten Tagen musste ich ein Beruhigungsmittel nehmen. Und dann habe ich zufällig meine Fotos gefunden, die vor ein paar Monaten vor Beginn des großen Krieges in der Ukraine aufgenommen wurden und war schockiert.
Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt. Der Spiegel zeigt heute eine ganz andere Person. Ich habe in den letzten Monaten nur sehr wenige Fotos von mir selbst gemacht. Deswegen ist es mir zunächst nicht so stark aufgefallen. Der Unterschied zwischen mir vor drei Monaten und jetzt ist riesig. So bekam ich Angst, meine alten Fotos anzusehen, und noch mehr Angst, neue zu machen.

Bis ich wichtige Worte von meinen afghanischen Freund hörte. Er sah Krieg in seiner Heimatstadt, er sah viele Male den Tod. Er gab mir einen Rat: Ich solle aufhören, mein verlorenes Ich zu suchen und ihm nachzutrauern. Ich solle aufhören, es zu hegen und zu pflegen und immer mit mir herumzutragen, jetzt, hier, in meinem neuen Leben.

„Dein neues Leben hat am 24. Februar 2022 begonnen, - erklärte mein afghanischer Freund. - Doch Du siehst es nicht und lebst Dein altes Leben weiter. Du tust so, als wärst Du noch die alte Tamriko. So kommst Du nicht weiter. Das hilft weder Dir noch Deinem Land. Erlaube Dir, Dich zu verändern und höre auf, Deinem alten Ich mit jedem neuen Schritt nachzutrauern“. Wie recht er hat!

Wenn ein neues "Du" beginnt 

Das neue Leben beginnt nicht, wenn wir uns entscheiden, damit zu beginnen. Es beginnt meistens durch unvorhersehbare Ereignisse. Man kann nicht einfach ein anderer Mensch werden. Dazu müssen Ereignisse eintreten, die einen verändern. Nur wenn man sich dessen bewusst ist und akzeptiert sich zu verändern, kann man diese Lektion lernen. Diese Veränderungen werden zu seiner neuen Erfahrung, die sich in Weisheit verwandelt.

Es kann jeden treffen und es muss kein Krieg sein. Verrat, der Tod eines geliebten Menschen, die Geburt eines Kindes, ein Autounfall, der Umzug in ein anderes Land, Krankheit können einen ändern… All dies kann einen zu einem anderen Menschen machen und zu Lebensweisheit werden.

Mein Schmerz und meine Trauer um die Menschen: In Mariupol, in der Gegend von Luhansk, Kiew, Cherson, Charkiv, Dnipro, Lwiw und in den vielen anderen ukrainischen Städten und Dörfern. Mein Schmerz für die Menschen, die sich von einem Tag auf den anderen in einem anderen Land wiederfanden, ohne die Sprachen und die Gewohnheiten dort zu kennen und ohne ihre Geliebten, ihre Ehemänner und Familien. Mein Schmerz für die zerstörten Städte, für mich selbst, mein Schicksal und das verlorene, vertraute Leben.  All dieser Schmerz wird weiter gefühlt, er wird immer weiter bestehen und er ist es, der mich verändert hat. Das muss man akzeptieren, sich darauf einlassen.

Ich weiß allerdings noch nicht, wer mein neues Ich ist. Ich habe es noch nicht kennengelernt, diese neue Tamriko. Nach vierzehn Monaten von Krieg in der Ukraine bin ich erst am Anfang dieser Reise. Mein afghanischer Freund hat recht: Stillstand hilft weder mir noch meinem Land. Egal was passiert, wir müssen uns trauen, anders zu sein als früher. Wir müssen uns auf die Veränderung einlassen. Und Ich mache wieder Fotos von mir. Ich will mich an diese Tage erinnern. Ich will mich erinnern, dass trotz des unendlich großen Schmerzes das Leben doch die Oberhand behält.

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Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum