Waldruh oder Wassergrab?
Die Suche nach der letzten Ruhe führt immer öfter in die Natur
Anne Schwalbe
Tod und Bestattung
Waldruh oder Seebestattung?
Die Mutter will ihren Bestattungsort aussuchen. Die Tochter begleitet sie und merkt – das ist gar nicht gruselig
Ivo Corrà
24.10.2022
9Min

Gerade hatte sie noch fröhlich von ihrer neuen Turngruppe erzählt und den warmen Fahrtwind genossen, der ihr durch den Fensterspalt ins Gesicht blies. Wir fuhren durch die bayerische Postkartenlandschaft: Alpenkamm vor tiefblauem Himmel, grüne Wiesen und alte Höfe mit roten ­Geranien an den Balkonen.

Als das Auto in den Schotterweg einbiegt, verstummt meine Mutter. Wir fahren in den Wald hinein, die Luft wird kühler, duftet nach Tannennadeln und feuchter Erde. An einem Mast flattert eine weiße Fahne mit grünem Logo: vier Blätter, die ein Kreuz formen, und der Schriftzug "Waldruh". Ein Name wie eine Ferienpension. Es ist ein Bestattungswald.

"Wo gehöre ich eigentlich einmal hin?", hatte meine Mutter, 81, gesund und munter, unvermittelt beim Kaffee gefragt. Mir war sofort klar, was sie meint. Sie ist in ihrem Leben viel umgezogen, Kinder und Enkel, Freunde und Verwandte sind über ganz Europa verteilt.

Mein Bruder, mein Vater, mein Onkel sind alle jung gestorben. Von heute auf morgen waren sie nicht mehr da. Man hatte sich nicht verabschieden können und musste im Schockzustand Entscheidungen über die Bestattung treffen. Meine Mutter will diese Entscheidungen nicht ihren Hinterbliebenen überlassen und hat sich eine ungewöhnliche Reise gewünscht: Sie möchte verschiedene Bestattungsmöglichkeiten besichtigen und sich schon in guten Zeiten ihre letzte Ruhestätte aussuchen. Was nach Vernunft und Selbst­bestimmung klingt, ist auch emotionale Fürsorge: Sie will sich selbst und uns Kinder auf den Abschied vorbereiten.

Wie man Menschen in ihren letzten Stunden beistehen kann, lesen Sie in unserem Erfahrungsbericht über einen "Letzte Hilfe"-Kurs

"Ich wünsche mir einen Ort, wo ich auch freiwillig hingehen würde, wo ich mich jetzt schon wohlfühle und wo ihr später gern hinkommt." Als sie das sagt, denke ich an meine widerwilligen Besuche im Mausoleum der Familie meines Vaters in Italien: draußen drückende Hitze, Zikaden in Endlosschleife und schlanke Zypressen, die keinen ­Schatten spenden; drinnen ist es kalt und man muss flüstern, weil es sonst gruselig hallt. Ich bin sehr erleichtert, als meine deutsche Mutter gesteht: Tradition hin oder her, das Familien­mausoleum sei für sie keine Option. Anscheinend beschäftigt sie sich innerlich schon ­länger mit dem Thema, denn sie weiß genau, dass sie keine traditionelle Erdbestattung auf dem Gemeindefriedhof vor Ort will, ­sondern eine Feuerbestattung. Als sie all ­diese Ge­danken laut ausspricht, atmet sie auf. Die Hemmschwelle, überhaupt über das ­Thema zu sprechen, hat sie überwunden. Jetzt braucht sie Informationen.

Sargbestattungen nehmen ab

Unsere erste Anlaufstelle ist die Webseite von Aeternitas e. V., einer Verbraucherini­tiative für Bestattungskultur. Dort erfahren wir: Mit ihren Wünschen liegt meine ­Mutter voll im Trend. Laut einer Umfrage der Güte­gemeinschaft Feuerbestattungsanlagen ­nehmen Sargbestattungen immer mehr ab, drei von vier Deutschen entschieden sich 2020 für eine Feuerbestattung. Das liegt auch daran, dass die Aschenbeisetzung mehr Individualität zulässt.

Meine Mutter setzt die Brille auf und klickt sich kopfschüttelnd durch die Seiten zur Weltraumbestattung (die Asche wird ins All geschossen) und zur Diamantbestattung (die Asche wird zu einem Diamanten gepresst). Sich auf ihrem Lieblingsberggipfel verstreuen zu lassen, fände sie schön, das geht aber bisher nur in der Schweiz. Denn in Deutschland gilt (außer in Bremen) strikter Friedhofszwang. Ausnahmen davon sind die Bestattungswälder und die Seebestattung in Nord- und Ostsee.

Sich kompostieren lassen?

Klimaschonender als die Einäscherung ist die Methode der Kompostierung oder "Re-­Erdigung", die in Deutschland erst seit kurzem angeboten wird: Der Körper wird in einem speziellen Edelstahlbehälter durch Mikroorganismen innerhalb von 40 Tagen zu Humus zersetzt. Meine Mutter ist Medizi­nerin und nicht zimperlich, aber bei dem G­edanken, sich kompostieren zu lassen, schüttelt sie sich und klickt schnell weiter.

Bei den Informationen zur Waldbestattung bleibt sie hängen. Die ersten Bestattungs­wälder in Deutschland wurden 2001 gegründet. Inzwischen gibt es über 160 davon, und es werden laufend neue eröffnet, denn die Nachfrage ist groß. Genaue bundesweite Statis­tiken oder ein zentrales Register gibt es nicht, aber laut einer Studie von ­Aeternitas ­wünschten sich 2019 19 Prozent der Deutschen eine Baumbestattung.

Und wenn ein Wildschwein die Urne ausgräbt?

In den Bestattungswäldern kann man einen Gemeinschaftsbaum mit mehreren Gräbern und einer Laufzeit von 25 Jahren wählen; oder man pachtet als Familie oder Freundesgruppe einen Baum exklusiv bis 2099. Am Fuße des Baums wird eine biologisch abbaubare Urne eingegraben. Kränze, Blumen oder Grabschmuck sind bei Wald­bestattungen nicht erlaubt, die Grabpflege übernimmt die Natur.

Meine Mutter schaut vom Bildschirm auf: "Und was mache ich, wenn ein Wildschwein meine Urne ausgräbt?" Wir prusten beide los. Das tut gut.

Auf dem Parkplatz des Bestattungswalds "Waldruh" steigt sie ­schweigend aus dem Auto. Es ist Spätsommer, am Vortag hat es geregnet und es riecht nach Pilzen. Verschiedene Hackschnitzelwege ­führen in den eingewachsenen Mischwald: riesige alte ­Buchen und Linden, hohe Tannen und Birken. Holzschilder zeigen den Weg zu einem See und zum Pavillon, wo die Andachten gehalten werden. "Bis jetzt hatte es sich angefühlt, als würden wir uns für jemand anderen erkundigen", sagt meine Mutter leise. Wir drehen nur eine kleine Runde, schweigen betreten und gehen nicht richtig in den Wald hinein. Sie bekommt Angst vor der eigenen Courage und will schnell wieder weg. Als das Auto den Schotterweg verlässt, atmet sie erleichtert auf, wie nach einer gelungenen Flucht. "Ich glaube, ich bin noch nicht so weit", sagt sie.

Die Bestattungsart muss für die Hinterbliebenen stimmen

Die folgenden Tage sprechen wir nicht mehr davon. Ich lasse ihr Zeit, merke, dass sie über dem Thema brütet. Auch mich beschäftigt es jetzt beständig. Ich rationalisiere meine Gefühle, indem ich weiter recherchiere: Der Trauer­forscher Norbert ­Fischer sagt, Naturbestattungen wie Seebestattung und Bestattungswälder hätten derart zugenommen, dass die Friedhöfe – zusammen mit der steigenden Zahl von Aschenbeisetzungen – Probleme hätten, ihre Flächen zu füllen und ihre Kosten zu decken. Die Hamburger Bestatterin Janna Schaarschmidt-­Davids betont, die Bestattungsart müsse auch für die Hinterbliebenen stimmen, denn es sei wichtig, später einen festen Ort zum Trauern zu haben. Mir wird klar: Den richtigen Bestattungsort für meine Mutter zu finden, ist auch für mich wichtig, es bereitet mich auf das Danach vor. Wenn ich später ohne sie dort hingehe, werde ich mich gern an unsere gemeinsamen Besichtigungen erinnern.

Nach ein paar Tagen sucht meine Mutter erneut das Gespräch. Wir tauschen uns jetzt häufig über das Thema Tod und Bestattung aus. Es fühlt sich selbstverständlicher an. "Ich mag die Vorstellung, dass die Asche sich als Nährstoff in der Baumkrone verteilt. Für den richtigen Baum würde ich mich sogar mit der Idee einer Beisetzung auf dem Friedhof ­anfreunden", sagt sie.

Wir fahren zum Münchner Waldfriedhof, der älteste seiner Art in Europa. Radfahrer und die Kleinlaster der städtischen Gärtnerei zischen über die asphaltierten Wege, immer wieder müssen wir zur Seite treten, um sie vorbeizulassen. "Nö, hier ist zu viel los!", sagt sie in einem Ton, als würde sie sich gerade ­einen Tisch im Restaurant aussuchen. Ich muss schmunzeln, diese Nonchalance liegt deutlich mehr in ihrer Natur als das betretene Schweigen bei der ersten Etappe.

Bei Waldbestattungen übernimmt die Natur die Grabpflege

Die Scheu schwindet

Wir fahren weiter zu einem kleinen Waldfriedhof am Stadtrand. Er ist ruhig und übersichtlich, fast gemütlich. Es gibt nur drei ­Bestattungsbäume, sie stehen verloren auf der Wiese und sehen aus wie die ­knorrigen, ­kleinen Obstbäume in alten ­Bauerngärten. Gravierte Namensplaketten aus Metall ­hängen untereinander am Stamm, wie die Klingelschilder an Hochhäusern.

Sie liest jede einzelne Plakette und guckt neugierig in ein frisch ausgehobenes Loch unterm Baum, das für eine Beisetzung am Nachmittag vorbereitet wurde. "Wie tief ist das wohl?", fragt sie. Mit jeder Besichtigung legt sie Scheu ab, lässt sie sich mehr auf konkrete Details ein.

Wir planen gerade die nächste Etappe, zur Seebestattung an der Ostsee, als meine ­Mutter ins Krankenhaus muss. Sie hat viel Beweglichkeit verloren, längere Spaziergänge oder eine Reise sind undenkbar. Sie bittet mich, stellvertretend für sie nach Travemünde zu fahren. "Schau dir alles genau an. Du weißt sowieso, was ich mag und was mir wichtig ist", sagt sie. Es fühlt sich an wie ein Wendepunkt: Als ich Kind war, traf sie wichtige Entscheidungen für mich, in Zukunft werde ich sie für sie treffen müssen.

Die Flagge halbmast, acht Glasen

Am Ufer leuchten sonnengelbe Rapsfelder, über dem Wasser hängen die Wolken tief und reglos, als hätte man sie auf den Himmel geklebt wie auf eine Kulisse.
Die "Eureka" von Kapitän Marco ­Kempe legt mit der Trauergesellschaft ab, die Flagge auf halbmast. Ich sitze diskret auf der ­Brücke. Im Saal ist die wasserlösliche ­Urne mit ­Blumen auf einem Tisch aufgebahrt. Die Ehefrau des Verstorbenen bleibt bei der ­Urne, die erwachsenen Kinder stehen an der ­Reling und schauen in die Ferne. Die jüngeren ­Enkelkinder freuen sich am Bug des Schiffs über den Wind, der die Haare und die festlichen Kleidchen zerzaust.
Zum ersten Mal stelle ich mir die ­Bestattung meiner Mutter ganz konkret vor: Wie würden wir uns auf dem Schiff verteilen? Wo ­würden mein Bruder und ich stehen, wie fänden ­unsere Kinder die Seebestattung?

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Als wir die Beisetzungsstelle erreichen, hält Kapitän Kempe eine Trauerrede, er spricht vom Horizont als Grenze unseres Sehens. Ich habe einen Kloß im Hals. Meiner Mutter ­würden seine Worte gefallen. Dann läutet Kempe vier kurze Doppel­schläge auf der Glocke: Acht Glasen, das kündigt in der Seefahrt den Wachwechsel an. An einem Seil lässt er die Urne mit dem Blumenkranz langsam ins Meer. Der Kranz schwimmt, die Urne sinkt durch ihn hindurch. Kempe nimmt die weiße Schirmmütze ab und hält sie vor die Brust. Schweigeminute.
Das Wasser ist dunkelgrün und trüb, man kann nicht tief blicken. Rund um den Blumenkranz pulsieren durchsichtige, milchweiße Quallen; das Sonnenlicht durchdringt sie und verliert sich flirrend in der Tiefe. Normalerweise würde ich mich vor ihnen ekeln, aber hier ist die Leichtigkeit dieser schwebenden Wesen tröstlich.

Mit vollständig gehisster Flagge fährt die "Eureka" Richtung Hafen. Während der Rückfahrt klebt Kapitän Kempe die Fotos des schwimmenden Kranzes in eine Mappe. Diese übergibt er, zusammen mit einer Seekarte mit den genauen Koordinaten der Beisetzungs­stelle, den Angehörigen.

Wie eine Kirche ohne Mauern

Zu Hause in München gehen meine Mutter und ich langsam mit dem Rollator spazieren. Wir setzen uns auf eine Parkbank, und sie lässt sich die Seebestattung erzählen, sieht die Fotos an, will alle Details wissen: "Wie groß ist das Schiff? War viel Verkehr auf dem Wasser? Was ist der Kapitän für ein Typ? Wie tief ist die Stelle? Sieht man die versunkenen ­Urnen? Igitt, Quallen!" Die Symbolik der ­Flagge gefällt ihr gut: in Trauer hinfahren und mit gehisster Flagge zurück.

Ich lese ihr die Trauerrede von Kapitän Kempe vor: "Der Tod ist nur ein Horizont. Und der Horizont ist nichts anderes als die Grenze unseres Sehens. Während wir hier um einen geliebten Menschen trauern, freuen sich ­andere, ihn hinter der Grenze wiederzusehen." Ich komme nicht bis zum Schluss. Wir weinen zusammen. Ich weiß nicht, ob aus vergangener oder zukünftiger Trauer.
Wir sprechen auch über das Danach. Da­rüber, dass Kapitän Kempe Gedenkfahrten zur Beisetzungsstelle anbietet. Meine Mutter überlegt kurz und schüttelt den Kopf. "Ich glaube, es wäre für euch besser, einen Ort zu haben, den ihr spontan und jederzeit besuchen könnt."

Sie möchte noch mal nach "Waldruh", zum Bestattungswald, fahren. Sie sagt, sie sei jetzt bereit, ihn wirklich zu besichtigen. Diesmal schläft sie auf der Fahrt. Als wir ankommen, steigt sie mühevoll, aber gut gelaunt aus. Wir gehen in den Wald, kommen zum offenen Holzpavillon für die Andachten. Fünf Reihen Holzbänke, vorn ein Baumstamm, auf dem bei der Trauerfeier die Urne abgestellt wird. Seitlich neben den Bänken ist auf dem Waldboden ein Kreis aus Kiesel­steinen und Tannenzapfen, den spielende Kinder gelegt haben, so wie sie es im Garten oder neben der Picknickdecke tun würden. Der Pavillon wirkt wie eine Kirche ohne Mauern. Statt auf alte Fresken blickt man hinter dem Rednerpult auf einen See. Auf der Weide daneben grasen Kühe, der Wind trägt leise den Klang ihrer Glocken zu uns herüber.

Wir gehen noch tiefer in den Wald und finden eine riesige Buche. An der Borke ist nur eine kleine Nummer, noch ­keine Namensplaketten. "Der hier ist wie der, auf den ich dich früher hochhievte, um an dem langen Ast zu schaukeln", sagt meine Mutter. Sie bleibt mit dem Rollator stehen und schaut nach oben in die dichte Krone. Ich steige über die Wurzeln auf die andere Seite des Baums. Wir strecken uns die Hände entgegen: Der Stamm ist so dick, dass wir uns nicht greifen und nicht sehen können, aber ich höre sie leise lachen. Dieser Baum ist genau richtig.

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