Ein paar ältere Damen warten schon seit dem frühen Morgen aufgereiht vor dem Kulturhaus in Myrotske. Olha Belytska und ihr Team sind da noch irgendwo auf einem Feldweg unterwegs, das Navi hat sie fehlgeleitet.
Sie kommen aus Kiew. Immer montags finden sich in der Hauptstadt Friseure, Kosmetikerinnen und Masseure zusammen, um den Menschen in den ehemals von russischen Truppen besetzten Orten etwas Gutes zu tun.
Verena Hölzl
Vsevolod Kazarin
Alles begann damit, dass Olha, 33, nach dem russischen Angriff auf ihr Land wie so viele in der Ukraine das dringende Bedürfnis verspürte, sich nützlich zu machen. "Ich habe mir überlegt: Worin bin ich gut? Natürlich Make-up!" Etwas unsicher postete die Visagistin ihren Plan auf Instagram. "Wer kommt mit?" Die Resonanz war überwältigend. Ende Mai brachen sie und ein paar Kollegen zu ihrer ersten Mission nach Irpin auf.
Vor dem Krieg war sie öfter in den Speckgürtel von Kiew gefahren, um mit Freunden und Kindern in den prächtigen Parks und Wäldern spazieren zu gehen. Die Vororte galten als Naherholungsgebiet und beliebte Wohnorte. Weit genug weg vom Trubel, aber immer noch nahe dran an den Arbeitsplätzen in der Hauptstadt.
Doch nach der Invasion wurde den Bewohnern die Nähe zu Kiew zum Verhängnis. Die Vororte waren eine Pufferzone um die Hauptstadt herum, das erklärte Ziel des russischen Angriffs. Als der Vormarsch ins Stocken geriet, entlud sich die Gewalt an der Zivilbevölkerung. Die russischen Soldaten mordeten, vergewaltigten und schossen auf Flüchtende. Orte wie Butscha, Irpin und Hostomel wurden zu einem Inferno der Kriegsverbrechen.
Natalya Prymak hat das Beautyteam ins Dorf geholt
Bei ihrer ersten Mission mussten Olha und ihr Team noch Leute auf der Straße ansprechen. "Ich wusste gar nicht, wie wir das anfangen sollten", sagt sie. Die Gasversorgung war noch nicht wiederhergestellt, die bei Explosionen zerborstenen Fensterscheiben fehlten – die Räume waren so kalt, dass sie kurzerhand Tische und Stühle nach draußen brachten und in der Sonne arbeiteten.
Inzwischen nehmen die Menschen das Angebot des Beautyteams dankbar an. Eine Frau brachte Gemüse aus ihrem Garten, um sich erkenntlich zu zeigen, andere sorgen dafür, dass sich das Angebot herumspricht. Eine frisch geföhnte Dame kommt auf Olha zu und hält sie an. Sie gehe jetzt nach Hause und wolle sich ganz herzlich für ihre Arbeit bedanken. "Auch wenn wir in der Ukraine dazu erzogen werden, auf unser Äußeres zu achten: Es geht hier gar nicht um die Maniküre, es geht darum, dass wir diesen Menschen Aufmerksamkeit schenken, dass sie wissen, sie sind nicht allein", sagt Olha. Vorhin habe ihr eine Großmutter erzählt, wie sie sich vor russischen Soldaten drohend aufgebaut habe, nachdem die ihren Zaun beschädigt hatten. Olha lacht. Es sind nicht nur die beklemmenden Geschichten, die Eindruck hinterlassen.
"Die Menschen brauchen Ablenkung"
Natalya Prymak hatte Olha in ihr Dorf eingeladen. "Die Leute müssen auch mal an was anderes denken", sagt die resolute Blondine, während sie Teigtaschen mit Sauerrahm auf einem Teller anrichtet. Sie leitet in Myrotske, dem idyllisch zwischen Wäldern und Seen gelegenen Dorf westlich von Butscha, das Kulturhaus. Auch wenn die russischen Truppen hier nicht so gewütet haben wie in den Vororten – es gab Tote und Zerstörung. Erst vergangene Woche wurden in einem Waldstück weitere Leichen gefunden. Es ist das Erste, wovon die Frauen, die vor dem Eingang des Kulturhauses auf das Beautyteam warten, erzählen.
Die Rückseite des Hauses ist übersät mit Einkerbungen von Granatsplittern. Früher wurden in dem rustikalen Backsteingebäude Volkstänze aufgeführt. Natalya steigen die Tränen in die Augen, wenn sie davon erzählt. Seit dem Krieg weben die Frauen Camouflage-Netze, Kinder malen Herzen in den Nationalfarben Blau und Gelb, um sie den Soldaten an die Front zu schicken. Natalya ist froh, endlich wieder anpacken zu können, so wie früher. Im Westen der Ukraine, wohin sie kurz nach der Besatzung fliehen konnte, habe sie nur den ganzen Tag gegessen und Nachrichten geschaut. Fürchterlich sei das gewesen. Als die russischen Truppen Ende März abzogen, kam Natalya zurück. "Endlich konnte ich etwas tun, mich ablenken."
Sie hat inzwischen den Kühlschrank und die Gartengeräte ersetzt, die russische Soldaten gestohlen hatten, und das Haus repariert. Aus vielen Häusern im Dorf hätten die Russen Elektrogeräte mitgenommen. Es ist, als hätten diese Plünderungen und Zerstörungen die Frauen im Dorf noch mehr schockiert als der ständige Beschuss. "Sie haben uns bestohlen und stattdessen Minen dagelassen", sagt Natalya mit kaum unterdrückter Wut.
Olga hat die Besatzung miterlebt
Das Beautyteam hat unterdessen ein herrliches Chaos aus Schminke, Bürsten und Scheren angerichtet. Es riecht nach Haarspray. Das Brummen der Föhne übertönt "Get Lucky" von Daft Punk, das aus dem Radio dudelt. Auch Natalyas Schwester Olga Temruk bekommt einen Haarschnitt, kurz, fransiger Pony, die Ohren frei, und Farbe auf die Augenbrauen.
Olga hat die Besatzung miterlebt. Nachts versteckte sie sich im Keller. Hunderte Panzer habe sie durch den Ort rollen sehen, sagt sie. Ihr tut es gut, erzählen zu können, was in Myrotske los war. Trotzdem, wenn sie sich jetzt daran erinnere, werde ihr ganz anders. "Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm", sagt sie. Eine junge Frau, die neben ihr sitzt, verdreht die Augen. Der kleine Sohn auf ihrem Schoß soll das alles lieber nicht hören.
Es sei nicht zu unterschätzen, wie wichtig es für die Menschen aus den besetzten Gebieten ist, wieder Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen – ob sie nun endlich einen guten Haarschnitt bekommen, sich für pfirsichfarbene Fingernägel entscheiden oder sich als Freiwillige einen Tag lang nützlich machen, erklärt Galina Sasyn, Psychologin in Kiew. "Wir hatten ganz normale Leben – bis der Krieg alles durcheinandergebracht hat." Galyna Sasyn trägt seit Beginn der Invasion ausschließlich Kleidung in den Nationalfarben der Ukraine. Das sei nicht nur patriotisch, sondern erinnere sie vor allem daran, was ihr wichtig sei. An schlechten Tagen helfe ihr das, sagt sie.
Natalya freut sich über kinnlangen Bob
Auch Yana Shushko trägt das Nationalemblem der Ukraine – auf einem ihrer Fingernägel. Im Beautyteam ist sie für energetische Behandlungen zuständig. "Meistens verstehen die Leute nicht, worum es geht. Aber sobald ich sage: Das hilft gegen Stress und Angstgefühle, wollen sie es sofort machen." Eine Kollegin renkt einer jungen Frau auf der Therapieliege den Rücken ein. Es knackst hörbar, die Frau stöhnt erleichtert. Eigentlich wird bei Yanas Behandlungen nicht gesprochen. Aber wenn sie in den ehemals besetzten Gebieten unterwegs ist, ist alles ganz anders. "Die Frau vorhin hat mir erzählt, wie sie ständig Angst hatte, die Russen würden sie umbringen", sagt Yana.
Natalya freut sich über ihren weißblonden, kinnlangen Bob und ist stolz, die Beautytruppe ins Kulturhaus geholt zu haben. "Wir sind hier vielleicht auf dem Land, aber wir müssen trotzdem gut aussehen", sagt sie und lacht. Im Dorf gebe es zwar eine ältere Dame, die Haare schneidet. Aber Profis aus der Großstadt – das sei doch was anderes. Natalyas Freundin kommt um die Ecke und hält strahlend einen abgeschnittenen Zopf in der Hand. Sie jubelt über ihren Mut und das Ergebnis. "Endlich kümmert sich jemand um die Leute im Dorf", sagt Natalya, als die Freundin wieder weg ist.
Das spielt auch deshalb eine Rolle, weil immer mehr Menschen unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden. Viele Jobs sind seit dem Krieg verloren gegangen, zugleich steigen die Preise wegen der unterbrochenen Lieferketten und ausfallender Ernten beständig. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre zerstörten Häuser, der Winter kommt früh in der Ukraine. Mit vielem werden sie alleingelassen. Wo der Staat überfordert ist, organisieren sich im ganzen Land Freiwillige in Chatgruppen und auf Social Media. Sie arrangieren Fahrdienste, stellen einander Wohnraum zur Verfügung, räumen zerbombte Ruinen oder evakuieren Menschen aus den Gebieten nahe der Front.
Das ist wie Therapie – auch für uns
Die Freiwilligen seien wie ein Organismus, erklärt Gleb Atamanenko, der als Visagist für Werbekampagnen arbeitet und an derselben Make-up-Akademie angestellt ist wie Olha. Mit seinem gepflegten Bart und bis zur Kappe leger in Schwarz gekleidet, kann man ihn sich gut im Kiewer Hipsterviertel Podil vorstellen. Wie viele andere in der Ukraine sammelt auch er Spenden und organisiert Drohnen und Munition für die Truppen. "Meine Freunde sind an der Front, und ich bin eben hier", sagt der 31-Jährige. Mit seinem kaputten Knie und dem Asthma fühlt er sich in Olhas Truppe besser aufgehoben als bei den Soldaten.
"Das ist wie Therapie – für die Menschen hier, aber auch für uns selbst. Wir helfen ihnen, und dabei fühlen wir uns selbst gut", sagt Gleb. Noch viel wichtiger als die neuen Frisuren oder die verschönten Augenbrauen seien oft die Gespräche. Bei den ersten Missionen fingen manche Kundinnen erst einmal an zu weinen, wenn sie auf dem Stuhl vor ihm saßen.
Die zerstörten Häuser sehen, die Geschichten zu hören – anfangs war das hart. Nach dem ersten Einsatz herrschte auf dem Rückweg nach Kiew im Auto Stille. Gleb erinnert sich an einen 20-Jährigen. Dessen Vater war in Butscha von russischen Soldaten getötet worden. Schuss in den Hinterkopf. Seit- dem stottert der Junge. Gleb schluckt. "Manchmal weiß ich dann gar nicht, was ich sagen soll."
Sicher fühlt sich auch jetzt noch niemand
Auch wenn sich die Russen inzwischen weit zurück in den Osten des Landes verzogen haben – sicher fühlt sich in den ehemals besetzten Gebieten auch jetzt noch niemand. Vor allem nachts kommt die Angst zurück. Laute Geräusche schrecken die Menschen auf. Die Besatzung mag Vergangenheit sein. Aber die Spuren des Krieges sind es noch lange nicht. Die Wälder um Myrotske sind vermint. Auch vor dem Kulturhaus hängt ein Aushang: Eine junge Frau aus dem Dorf ist von einem Spaziergang mit ihrem Hund nicht zurückgekommen.
Wenn Olha montagabends zurück nach Hause fährt, hat sie nicht immer ein gutes Gefühl. Manchmal sind die Leute aggressiv gewesen. Oder es waren welche dabei, die überzogene Erwartungen haben. Letzte Woche zum Beispiel kam sie am Morgen nach ihrem Einsatz mit dem Beautyteam gar nicht aus dem Bett. "Die Menschen haben mich einfach so viel Energie gekostet", sagt sie. Nichts habe gepasst. Als sie ein paar Frauen nach Hause schickte, damit sie dort ihre Farbe selbst auswaschen, sei das auf Unverständnis gestoßen. "Ich mache das ja auch nur freiwillig", sagt Olha. Aber am Ende versteht sie: "Die Menschen haben eben eine schwere Zeit hinter sich, das hinterlässt Spuren."
"Die Menschen hier haben sich verändert"
Aus demselben Grund ist an diesem Montag auch nicht jeder ins Kulturhaus gekommen. Die Besatzung hat viele Traumata in Myrotske hinterlassen. Manche Dorfbewohner hätten immer noch irrationale Angst, andere seien zu schüchtern, um Hilfe wie die vom Beautyteam anzunehmen. "Die Menschen hier haben sich verändert", sagt Natalya, als sie das Kulturhaus am Ende des Tages wieder zusperrt.
Fast 13 Millionen Menschen haben seit Kriegsbeginn Ende Februar ihre Heimat verlassen. Viele sind außer Landes geflohen. Die meisten sind jedoch in der Ukraine geblieben und suchen als Binnenvertriebene Schutz. Aber Krieg herrscht nicht nur im Osten der Ukraine, sondern auch in den bislang friedlichen Regionen des Landes. Raketen schlagen in Wohnblöcke und Häuser ein, treffen die Zivilbevölkerung.
Die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt die Menschen in der Ukraine, in den angrenzenden Ländern und auch in Deutschland. chrismon-Leserinnen und -Leser können spenden. Stichwort: Ukraine-Krise. Das Spendenkonto der Diakonie Katastrophenhilfe bei der Evangelischen Bank: DE68 5206 0410 0000 5025 02
Liebes Chrismon-Team,
Liebes Chrismon-Team,
ich habe die aktuelle Ausgabe von Chrismon und insbesondere den o.g. Artikel mit großem Interesse gelesen. In Zeiten wie diesen finde ich es sehr wichtig, den Blick auch auf die positiven Ereignisse und Aktionen zu richten, selbst wenn sie in all dem Chaos, der Unsicherheit und der allgemein dominierenden „negativen Berichterstattung“ fast untergehen.
Den Ansatz des Beautyteams, im eigenen Land zu fremden Leuten zu fahren, ihnen durch Ablenkung was Gutes zu tun und sich dabei ihre Sorgen anzuhören bzw. mit den Betroffenen darüber zu sprechen, finde ich sehr mutig und bemerkenswert. Hat man doch oft genug sein eigenes „mentales Päckchen“ zu tragen. Es erfordert viel Einfühlungsvermögen und Kraft von allen Beteiligten. Ich finde es sehr gut, dass derlei Aktivitäten vor Ort von der Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt werden.
So sehr ich verstehen kann, dass viele Betroffene Schutz im Ausland suchen, halte ich es für enorm wichtig, dass sich die Menschen vor Ort gegenseitig Halt geben. Das geschilderte Projekt leistet auf unkonventionelle Weise hoffentlich einen Beitrag dazu, die momentane Situation vor Ort besser auszuhalten (wer weiß, wie lange sie noch anhält) und in dem täglichen Kampf um`s Überleben das eigentliche Ziel eines friedlichen, souveränen und angstfreien Lebens in der Ukraine nicht aus den Augen zu verlieren.
Herzliche Grüße
Steffi Weiß
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