chrismon: Wie kann es passieren, dass Männer, die noch vor Wochen mehr oder weniger friedlich in ihrem Land gelebt haben, zu Vergewaltigern werden?
Monika Hauser: Wir wissen nicht, wie sich die Männer vorher verhalten haben. Sie werden nicht über Nacht zu Bestien. Sexualisierte Gewalt beginnt nicht mit Kriegsausbruch und hört danach auch nicht einfach wieder auf. Das sehen wir an den Übergriffen und der Gewalt in Friedenszeiten, nicht nur in Russland, sondern in vielen Gesellschaften, auch in Deutschland. Soldaten haben in der Regel in patriarchalen Gesellschaften gelebt. Die grundlegende Benachteiligung und die sexistischen Abwertungen der weiblichen Bevölkerungen setzen sich im Krieg in verschärfter Form fort.
Und die Gewalt tritt dann ungehemmt zutage, weil die Kontrolle fehlt?
Ja, hinzu kommt die russische Propaganda, die die ukrainische Zivilgesellschaft und die Frauen entmenschlicht. Auch Gruppendruck wirkt auf die Männer. Im Krieg wird ein dominantes, maskulines Bild von Männlichkeit gefordert, das solches Verhalten begünstigt. Wir müssen uns eine extrem aggressive Stimmung vorstellen.
Kann man da von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe sprechen?
Wenn man Vergewaltigungen nur als Kriegstaktik beschreibt, greift das zu kurz. Das stellt die Motivation der Täter in den Vordergrund und ignoriert die Perspektive der Opfer. In Kriegen wird sexualisierte Gewalt in unterschiedlichen Formen durch unterschiedliche Täter ausgeübt. Frauen werden im familiären Umfeld vergewaltigt, weil die Stresssituationen extrem sind. Oder sie erleben Übergriffe auf der Flucht. Generell steigt die Gefahr für Frauen und LGBTQI+, sexualisierte Gewalt zu erleben, überall dort, wo Regeln und Gesetz nicht mehr kontrolliert werden können und Täter straffrei bleiben.
"Die Vorgesetzten erzeugen ein Klima, in dem sich die Soldaten vor Strafverfolgung sicher fühlen"
Trotzdem ist die Frage wichtig, ob die russische Armee Vergewaltigungen gezielt einsetzt, weil es um die Verantwortung geht.
Wenn man sich anschaut, welche Kriegsverbrechen Russland in der Ukraine begeht, wie zivile Ziele wie Krankenhäuser, Schulen, Kindergarten angegriffen und Menschen ausgehungert werden, muss man davon ausgehen, dass die russische Armee die Gewalt und damit auch Vergewaltigungen zielgerichtet einsetzt, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren.
Welche Rolle spielen Vorgesetzte dabei?
Eine entscheidende. Sie sind verantwortlich für die Disziplinierung ihrer Soldaten. Das gilt für alle Armeen. Wenn US-Kommandeure in Vietnam oder Kambodscha gesagt haben, "everything you find, is yours" oder "boys are boys", war das ebenso eine klare Botschaft an die Soldaten. Die Vorgesetzten erzeugen ein Klima, in dem sich die Soldaten vor Strafverfolgung sicher fühlen und tun können, was sie wollen. Da wird sexualisierte Gewalt gezielt eingesetzt oder zumindest toleriert. Zugleich können Vorgesetzte die Gewalt unterbinden.
Monika Hauser
Sebastian Drescher
Putin dagegen zeichnet eine Einheit aus, die in der Ortschaft Butscha mutmaßlich Gräueltaten verübt hat. Das legitimiert ein solches Vorgehen.
Ja, es signalisiert den Soldaten, dass es okay und gewollt ist, die Bevölkerung zu entmenschlichen. Mit Propaganda kann eine politische Führung dazu beitragen, dass Soldaten ihre eigenen Vorstellungen von Moral und Unrecht ausleben. Da braucht es dann keine direkten Befehle mehr. Es wird erwartet, ohne dass es direkt befohlen wird.
Das macht die Strafverfolgung später so schwer?
Dank mehrerer UN-Resolutionen sind Vergewaltigungen inzwischen als Kriegsverbrechen anerkannt. Das sind feministische und juristische Errungenschaften. Aber der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bislang nur eine einzige Verurteilung wegen sexualisierter Gewalt ausgesprochen, da ging es um einen ehemaligen Milizenführer der DR Kongo. Das Problem ist, dass man keine Befehlsketten nachweisen kann. Aber diese gibt es oft auch nicht. So oder so: Die Justiz wird der patriarchalen Dynamik von sexualisierter Gewalt nicht gerecht.
Welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen kann ein so massives Ausmaß sexualisierter Gewalt wie jetzt in der Ukraine haben?
Wir wissen, dass Frauen, die vergewaltigt werden, in ihren Gesellschaften ausgegrenzt werden. Auch das ist eine Folge der patriarchalen Kultur, die auf allen Seiten vorherrscht. Die Vorstellung ist, dass der Frauenkörper den Männern gehört. Wir wissen außerdem, dass es die seelischen Verwundungen der Frauen verstärkt, wenn sie ausgegrenzt werden. Sexualisierte Gewalt kann ihnen das Gefühl geben, ihre Identität sei zerstört, weil sie gefühlt die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Die Tabuisierung hat auch Folgen für die gesamte Gesellschaft und beeinflusst alle Beziehungen. Wenn wir sagen, im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit, dann stirbt als Nächstes die Beziehungsfähigkeit.
"Die Vorstellung ist, dass der Frauenkörper den Männern gehört"
Sie arbeiten seit 30 Jahren mit Betroffenen. Was hilft jetzt den Frauen in der Ukraine? Und was eher nicht?
Sie brauchen Ruhe, Sicherheit und traumasensible Fachleute in der medizinischen und psychosozialen Versorgung. Das gilt sowohl für die Vertriebenen innerhalb der Ukraine als auch für die Geflüchteten in den Nachbarländern oder in Deutschland. Was sie nicht brauchen, sind Kameras und Mikrofone, die auf sie gerichtet werden, wenn sie es nicht selber wollen.
Sind Berichte nicht wichtig zur Dokumentation?
Natürlich, aber wichtig ist, dass die Frauen dazu bereit sind. Und dass sie bestimmen können, was und wie viel sie erzählen wollen.
Was ist langfristig nötig?
Ganz wichtig ist gesellschaftliche Anerkennung. Nachkriegsgesellschaften neigen dazu, den "beschädigten" Teil auszugrenzen, das trifft die Frauen und die Kinder, die aus Vergewaltigungen entstanden sind. Da braucht es viel Aufklärung. Und Frauen müssen an Friedensverhandlungen und politischen Prozessen beteiligt werden. Denn nur sie denken die Realitäten von Frauen mit, etwa bei der Entschädigung. Gemeinsam mit unseren Partnern in Bosnien haben wir dort lange für eine gesetzliche Regelung gekämpft. 2006 hat Bosnien als erstes Land weltweit ein Gesetz verabschiedet, das im Krieg vergewaltigte Frauen mit Veteranen gleichsetzt. Die Betroffenen erhalten eine Pension und das Recht auf medizinische und psychologische Unterstützung. Und der Staat erkennt sie damit an.
Unterstützt Ihre Organisation Medica Mondiale Betroffene in der Ukraine?
Seit Mai bieten wir Onlinetrainings für Frauenrechtlerinnen und Aktivistinnen an, die in Beratungsstellen in der Ukraine und den umliegenden Ländern arbeiten. In den Fortbildungen geht es darum, wie die Helferinnen die Betroffenen traumasensibel unterstützen können und dabei auch für sich selbst sorgen können. In Lwiw im Westen der Ukraine gibt es zahlreiche Hilfsorganisationen, es fehlt aber oft an einem praxisnahen, auf Frauen ausgerichteten Blick. Dazu können wir beitragen.
Wie lässt sich sexualisierte Gewalt im Krieg vermeiden?
Grundsätzlich – also auch in Friedenszeiten - braucht es mehr gesellschaftliche Sensibilisierung für die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Das sind Strukturen, die uns alle prägen. Aber wir können sie verändern. Nur fehlt leider oft der politische Wille, auch in Deutschland.
"Auch in Friedenszeiten braucht es mehr gesellschaftliche Sensibilisierung für die ungleichen Machtverhältnisse"
Inwiefern kann eine feministische Außenpolitik, wie sie auch Annalena Baerbock anstrebt, dazu beitragen?
Diesen Wandel fordert Medica Mondiale schon lange. Es geht im Prinzip um die drei "R". Erstens die Rechte von Frauen und Mädchen stärken. Zweitens die Repräsentation von Frauen bei Friedensverhandlungen und beim Wiederaufbau verbessern, also etwa bei der Gesetzgebung, bei Gesundheit und sozialen Themen. Und drittens die Ressourcen bereitstellen und gerecht verteilen, die all das möglich machen. Dabei sollten Außen- und Entwicklungspolitik eng zusammenarbeiten. Glaubwürdig ist all das aber nur, wenn die Bundesregierung auch feministische Innenpolitik macht und mehr unternimmt, um auch in Deutschland Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Dazu gibt es die Istanbul-Konvention, die verpflichtet, gegen geschlechtsspezifische Gewalt vorzugehen.
Was sollte die Bundeswehr in der Ausbildung tun, um zu verhindern, dass deutsche Soldaten in einem Auslandseinsatz übergriffig werden könnten?
Auch in Deutschland haben wir ein ungleiches Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Jede zweite bis dritte Frau hat bereits Gewalt erlebt. Wenn die Soldaten bei der Bundeswehr anfangen, bringen sie ein Bild davon mit, wie Frauen und Männern zu sein haben. In der Ausbildung sollten diese Ungleichheiten thematisiert werden und die Soldaten für die Machtdynamiken in der Kriegssituation sensibilisiert werden. Das kann man etwa mit Rollenspielen üben. Die Bundeswehr hat eine besondere Verantwortung und sollte Übergriffe auch innerhalb der Truppe konsequent verfolgen. Wenn ich mich als führender Soldat hinstelle und sage, wir wollen eine respektvolle Haltung, hier wird nicht sexistisch über Frauen geredet, hier werden auch keine Witzchen gerissen, und wenn wir von Übergriffen hören, wird das konsequent verfolgt, kann das schon viel verändern.