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Dieses Buch aufzuklappen, erfordert ein wenig Überwindung. Denn man ahnt, dass man da nicht wieder rauskommt, ohne nicht wenigstens ein bisschen was zu ändern im Leben. Heißt es doch in der Unterzeile des "Überlebens-Handbuchs": "Warum Sie sich auf Krisen und Katastrophen vorbereiten sollten ..." Auch wenn der Satz dann so weitergeht: "... und wie Sie das anstellen, ohne Ihr ganzes Leben umzukrempeln." Die beiden Autoren – erfahren im Katastrophenschutz, bei Polizei, beim Technischen Hilfswerk, als Outdoor-Trainer – legen der Leserin, dem Leser doch ziemlich viel nahe, was zu kaufen, zu tun, zu organisieren, zu überdenken wäre.
Ja gut, aber so oft kommt eine katastrophale Situation ja nicht vor, oder? Nein, nicht sooo oft, aber öfter, als man denkt. 2018 etwa mussten von jetzt auf gleich mehrere brandenburgische Dörfer evakuiert werden, als ein großer Waldbrand sie einzuschließen drohte. Dann die Flutkatastrophe 2021.
Auch längere Stromausfälle kommen immer mal wieder vor, wenn auch selten bis zu fünf Tage lang wie im "Münsterländer Schneechaos" 2005. Man ahnt ja gar nicht, für was alles Strom benötigt wird: Supermärkte zum Beispiel schließen, weil Scannerkassen und Türen nicht funktionieren, Sendemasten für Mobilfunk fallen aus, Bankautomaten rücken kein Geld mehr raus.
Aber warum vorsorgen – im Katastrophenfall kümmert sich doch der Staat um uns, oder? Ja, aber der staatliche Katastrophenschutz gehe davon aus, schreiben die Autoren, dass sich Bürgerinnen und Bürger vorübergehend selbst helfen können. Denn Rettungsdienste kümmern sich zunächst um die Verletzlichsten, evakuieren zum Beispiel das Pflegeheim, bauen fürs Krankenhaus eine Notstromversorgung auf. Der gesunde Erwachsene, der jetzt zur Stadthalle getapert kommt, weil er sein Smartphone aufladen möchte und was zu essen sucht, wird dann zur zusätzlichen Belastung.
Taschenlampe griffbereit, Wasservorrat?
Wer vorsorgt, handle also sozial, so die Autoren. Das übrigens sei auch der Unterschied zum Hamsterer, der kurz vor knapp alle Regale leer kauft, so dass niemandem was bleibt. Vom paranoiden Prepper, der misstrauisch gegenüber Nachbarn und Staat ist, grenzt man sich ebenso ab.
Ziel der Autoren ist nicht, dass die Leserin demnächst in der Lage ist, sich mit der Familie wochenlang durch die Wildnis zu schlagen. Es komme auch nicht darauf an, sich nun sofort Vorräte und Ausrüstung für einen kompletten Ausfall der wichtigsten Infrastrukturen anschaffen. "Viel wichtiger ist, dass Sie anfangen, sich mit der Bedeutung des Themas Krisenvorsorge auseinanderzusetzen. Wenn Sie dann nach der Lektüre dieses Buchs einfach nur prüfen, ob Sie eine Taschenlampe und Batterien im Haus haben, Ihre Hausapotheke aufstocken und sich dann vielleicht noch einen Campingkocher und einen kleinen Vorrat an Trinkwasser zulegen, ist schon viel gewonnen."
Übrigens: Wasser im Haus zu haben, das lernt man gleich, ist viel wichtiger als Nahrungsmittel. Die werden gern überschätzt. Auch erfriert man eher, als dass man verhungert. Ähnliche Priorität wie Wasser hat also die Wärme.
Nun ja, ganz so harmlos geht das Buch dann aber nicht weiter. Manchmal scheint die Survival-Begeisterung mit den Autoren durchzugehen. Als Leserin kriegt man sofort nervöse Schnappatmung, wenn man liest, was EIGENTLICH alles nötig wäre, um für die beiden Hauptszenarien gerüstet zu sein: zu Hause zu überleben (zum Beispiel ohne Heizung) oder das Haus verlassen zu müssen, etwa bei Hausbrand oder Hochwasser.
Schnell weg - und wo ist der Dokumenten-Stick?
Zum Glück gibt es dann doch auch Minimalgepäcklisten im Buch. Besonders wertvoll der Tipp, einen Dokumenten-Stick anzulegen mit Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, eventuell Grundbucheintrag, Fahrzeugpapieren, Versicherungsscheinen, Fotos von Angehörigen, Fotos vom Eigentum, Sozialversicherungsausweis, Testament … Den Stick natürlich wasserdicht verpacken. Für Kinder empfehlen die Autoren eine wasserdichte "SOS-Kapsel" zum Umhängen mit allen Kontaktdaten, auch von Verwandten, und mit Infos über gesundheitliche Besonderheiten, falls Eltern und Kind getrennt werden.
"I’m never coming home"-Gepäck
Das nächstgrößere "Mininotgepäck" für ein bis drei Tage enthält dann zum Beispiel Notizblock, Powerbank, Müsliriegel und Nüsse, 2 bis 4 Liter Wasser, Feuerzeug, Minikopflampe, Rettungsdecke (das sind diese beschichteten Folien), Regenponcho, Medikamente (auch Tampons). Das ist nur wenig mehr, als so manche Frau eh in ihrer Alltagstasche mit dabei hat.
Dann gibt es noch den Überlebensrucksack für 3 bis 7 Tage mit 12 bis 15 Kilo Inhalt, da ist dann auch ein Kurbelradio drin, eine wasserdichte Mehrzweckplane mit Ösen (Tarp), Wasserfilter, Brenner mit Gaskartusche oder Spiritus … Und schließlich, da stehen einem dann wirklich die Haare zu Berge, gibt es die INCH-Bag mit 30 bis 40 Kilo. INCH steht für "I’m never coming home"-Gepäck.
Erfreulicherweise helfen auch Soft Skills beim Überleben – davon hat man dann schon mehr, denkt man. Dazu gehört zum Beispiel Handlungsfähigkeit statt Kopflosigkeit. Allerdings erwirbt man sich die nach Ansicht der Autoren vor allem dadurch, dass man innerlich schon mal möglichst viele Szenarien durchspielt: Was wäre, wenn kein Wasser mehr aus der Leitung kommt, eine Ausgangssperre für Wochen verhängt wird, der Strom ausfällt? Welche sonstigen Pleiten und Pannen wären denkbar, und was würde man tun? Solche Szenarien gern öfter durchspielen. Die Autoren versprechen: Angst und Panikgefühle lassen allmählich nach.
Katastrophenübung in der Familie
Sogar Spaß könne man dabei haben: Wenn man mit Gleichgesinnten Fallbesprechungen durchführe oder im Urlaub Trockenübungen als Familienevent oder Wettbewerb mit Freunden veranstalte. Bevor man den Kopf schüttelt: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfiehlt ebenfalls das umfangreiche Vorsorgen, etwa in seiner Broschüre. Nur eben ohne Urlaubsspiele.
Buchtipp – Benjamin Arlet/ Daniel Schäfer: "Das Überlebenshandbuch". Be.bra verlag, Berlin-Brandenburg 2021, 207 S. 20 €