Noch geht es uns gut in Estland, es gibt eigentlich keinen Grund, sich zu beschweren. Aber Angst und Sorgen hat man doch. Werden die baltischen Länder Russlands nächstes Ziel sein? Wie lange hält unser Frieden? Soll man sich vorbereiten – kann man sich überhaupt auf so etwas vorbereiten? Wenn Russland angreift, soll ich bleiben oder Estland schnellstmöglich verlassen? Solche Gedanken habe ich seit dem 24. Februar im Kopf.
Tuuli Varik
An dem Tag hat Estland seinen Unabhängigkeitstag gefeiert und es hat sich so falsch angefühlt. Am 24. Februar vor 104 Jahren war die Geburtsstunde der estnischen Republik. 1940 hat die Sowjetunion Estland annektiert - bis zur erneuten Unabhängigkeit am 20. August 1991.
Seither sind 30 Jahre vergangen. Auch der 20. August ist ein Feiertag. Aber der Tag der ersten Unabhängigkeit 1918 wird groß gefeiert: mit Paraden und anderen öffentlichen Veranstaltungen. In jeder Familie wird ein festlicher Tisch gedeckt. Und man steht früh auf, um bei Sonnenaufgang die estnische Fahne zu hissen.
Diesmal war der Unabhängigkeitstag ein schlimmer Tag, durchsetzt mit widersprüchlichen Gefühlen. Der Ukrainekrieg fing an, bis dahin unvorstellbar, dass das im heutigen Europa noch möglich ist. Und so bedeutete der Tag umso mehr, weil wir genau wissen, was für die Ukraine auf dem Spiel steht.
Hier in Haapsalu reden wir täglich über den Krieg, meine Kollegen und ich, meine Familie. Meine Mutter hat mir gesagt: "Ich bin mir ganz sicher, wenn bei uns Krieg ausbricht, würdest du wieder nach Deutschland gehen." Ich bin mir da nicht so sicher. Es würde auch hier Hilfe gebraucht, als Sozialarbeiterin könnte ich vielleicht etwas tun. Und geht das überhaupt, das eigene Land verlassen? Über solche schwierigen Fragen denkt man plötzlich nach. Als 30-Jährige, die zu Sowjetzeiten gar nicht gelebt hat, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie eine russische Besatzung wäre.
Die Leute wollen sich vorbereiten. Viele kaufen Streichhölzer. Regale mit lang haltbaren Lebensmitteln wie Buchweizen, Essig, Mehl sind leer. In der ganzen Stadt gibt es momentan kein Salz. Man denkt: "Wenn das jetzt alle kaufen, mache ich das besser auch" - wie am Anfang der Corona-Pandemie. Hinzu kommt: Die Leute sind erschöpft von den vergangenen zwei Jahren. Erst musst du damit leben, dass menschliche Nähe gefährlich sein kann. Und jetzt kommen Krieg und Angst dazu. Ich höre auch von Leuten in meinem Alter, die depressiv werden, den Druck nicht mehr aushalten.
Die Nato hat in jedem baltischen Land einen Stützpunkt. Und es kommen noch mehr Soldaten, Flugzeuge. Und doch fragt man sich: Wird das reichen?