kunsthaus apolda
Fühmanns Barlach
Gestern war ich in Apolda. Diese freundliche Stadt in Thüringen ist für ihre Glockenwerkstätten bekannt, aber sie besitzt auch ein feines Kunsthaus. Dort wird gerade eine Ausstellung mit Werken von Käthe Kollwitz und Ernst Barlach gezeigt – mit großem Erfolg. Trotz Pandemie waren innerhalb von vier Wochen schon fast dreieinhalbtausend Menschen dort.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.02.2022

Eigentlich hatte ich gedacht, über Barlach vieles zu wissen und seine Werke gut zu kennen. Ehrlich gesagt, hatte ich mir einiges auch „übergesehen“. Zum Glück hat mich die Ausstellung im Kunsthaus Apolda neu hinschauen lassen. Zum Glück hat mir der Schriftsteller Franz Fühmann den Sinn für diesen Künstler neu geöffnet. In diesem Jahr wird sein 100. Geburtstag von denen, die mit ihm und seinen Bücher vertraut sind, intensiv begangen. Da viele (in Westdeutschland) ihn noch nicht kennen: Fühmann hat viele ideologische Wandlungen durchmachen müssen, katholisch aufgewachsen, als Jugendlicher dem Nationalsozialismus verfallen, nach dem Krieg zum Sozialismus bekehrt, durch den Einmarsch in Prag 1968 erschüttert, wurde er für Büchermenschen in der DDR zu einer Leitfigur – als ehrlicher, ernsthafter, mitfühlender Autor und Mentor.

Ich kannte sein Essay „Meine Bibel. Erfahrungen“ als einzigartiges Meisterwerk. Dann las ich auf dem Weg nach Apolda seine Novelle „Barlach in Güstrow“ von 1968. Darin erzählt Fühmann von einem dunklen Tag im Jahr 1937, kurz nachdem Barlachs berühmter „Schwebender“ von NS-Schergen aus dem Güstrower Dom entfernt worden war. Ein dunkles, tiefes, dichtes Buch, in das auch Fühmanns DDR-Verzweiflung eingeflossen ist. (Das Buch ist antiquarisch für wenige Euro leicht erhältlich.) Hier habe ich Barlach wieder als einen großen Künstler sehen gelernt.

Die wunderbare Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ bringt in ihrem aktuellen Heft mehrere hochinteressante Texte zu Fühmann. Besonders habe ich mich darüber gefreut, dort ein Gedicht zu finden, das Fühmann mit 31 Jahren (also 1953/4) über ein Bild von Barlach geschrieben hat. Lesen Sie selbst:

 

Barlach: Verhüllte Bettlerin

 

Die Hände hoffnungslos sinkend, offen. Aus Grauem

das Tuch über den Kopf. Viel Schmerz fliesst nieder

über den müden Leib. Sie hat nur die Hände

gegen eine ganze Welt hat sie nur

die Hände zu zeigen.

 

Diese denn, freilich: Unschön

sind sie, verzerrt. Krümmungen

über der Strasse: hinter ihnen

wächst Tuch und Fleisch und Nacht zusammen

 

Der Himmel, der ihr überm Haupt ist, zusammen ist geschrumpft,

es ist ein mitleidiger Himmel: Er macht sich klein

dass sie ihn ertragen kann.

 

Sie hat

die Hände noch offen, als ob

die Welt noch da wäre, wie sie sie wähnt: Barmherzig.

 

Das Haupt, ich will es enthüllen. Schwer hebt

das Tuch sich

 

Das Kinn hebt sich spitz. Die fallenden Falten

vom Mund zu ihm hin wie die Bäche vom Berg. Dahinter, nur Tiefe,

die Wangen, und Höhlen: Die Augen.

 

nun schlägt sie die Hände

zusammen übers Gesicht, und schrecklich nunmehr,

ohne Kunst, steht sie da, alltäglich geworden

 

sie hat kein transzendentes Leid,

o diese Gemeinheit: Metaphysik

suchen sie, wo sie zu helfen haben.

 

Die Kunst hat aufzudecken, nicht zuzudecken.

Zeigt, was dahinter ist! Aber sie,

die Erhabnen, sie verhüllen es,

und dann murmeln sie noch: Geheiligt! Geheiligt!

 

P.S.: Eine "verhüllte Bettlerin" gab es in Apolda nicht zu sehen. Von den vielen Figuren alter, armer Frauen kommt die oben abgebildete Skulptur dem Gedicht aber am nächsten.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur