jhc
Ist das nur polemisch oder schon judenfeindlich?
Viel, zu viel Zeitung lese ich. Das meiste habe ich ein, zwei Tage später vergessen. Leider sind es zumeist die schlechten, ärgerlichen, anstößigen Texte, die mich länger beschäftigen. Zum Beispiel ein langer Artikel über die deutsche Erinnerungskultur, den ein renommierter Historiker in der vergangenen Woche in einer renommierten Zeitung veröffentlich hat.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
21.01.2022

Der Name des Autors (von dem ich vor zwei Jahren ein fast tausendseitiges Buch mit Gewinn gelesen habe) und der Zeitung (der ich mich seit langem verbunden fühle) tun hier nichts zur Sache. Es geht mir nicht um Empörung, sondern um eine grundsätzliche Frage, nämlich: Wann kippt eine berechtigte oder zumindest diskussionswürdige Kritik der Erinnerungskultur ins Gehässige, Feindselige oder gar Antisemitische? Und dazu finden sich in diesem Artikel nicht etwa die Privatmeinungen eines Einzelnen, sondern typische, verbreitete Gedanken und Argumentationsfiguren.

Es ist eine nicht geringen kulturelle Leistung, dass wir in Deutschland versuchen, uns unserer Schuldgeschichte zu stellen, sie zu erinnern und zu verstehen, aus ihr die rechten Schlüsse für unser Leben heute zu ziehen. Das ist jedoch keine Errungenschaft, auf die wir stolz sein könnten, sondern ein offener Prozess. Deshalb gehört zu ihr die Kritik an ihr. Sonst würde sie in Ritual, Langeweile, Selbstzufriedenheit erstarren.

Da mich das Thema interessiert, fange ich an, diesen langen Artikel zu lesen. Manches lerne ich darüber, wie sich die Erinnerungskultur nach 1945 entwickelt hat, in Deutschland, Israel und den USA. Doch je weiter ich komme, umso unwohler wird mir. Der kalte, vermeintlich sachliche Ton stört mich zunehmend. Es häufen sich polemische Pauschalisierungen. Plötzlich ist von einer „Holocaust-Orthodoxie“ die Rede, die moralische Macht ausübe, die Erinnerung an die deutsche Schuldgeschichte funktionalisiere und ein sinnvolles Vergessen verhindere. „Inhaber der Deutungshoheit“ würden eine „ewige Schuld“ der Deutschen festschreiben. Wer sind diese dunklen Mächte? Haben sie Namen? Oder Gesichter? Wie lautet ihre Geschäftsadresse?

Das Ende des Artikels bildet ein altes Zitat eines längst verstorbenen jüdischen Intellektuellen. Es raunt davon, dass eine zu intensive Erinnerung an die Ermordung des europäischen Judentums damals den Antisemitismus heute befördere. Gibt es dafür empirische Belege aus neuerer Zeit? Was will der Autor mit diesem Zitat sagen? Dass die Juden selbst schuld sind am Antisemitismus? Dass es für sie am besten wäre, den Mund zu halten? Und warum benutzt der Autor einen verstorbenen Juden, der sich also nicht mehr wehren kann, um etwas auszusprechen, was doch seine eigene Auffassung ist?

Ich könnte nun fragen, ob dieser Text nur polemisch ist oder auch bösartig. Ob er „primär“ oder „sekundär“ antisemitisch ist oder zumindest judenfeindliche Klischees bedient. Ob er eher eine „Schuldabwehr“ oder eine „Schuldabkapselung“, wie die Fachleute sagen, betreibt. Aber mehr noch interessiert mich eine andere, weniger gewichtige Frage: Was ist eigentlich das Problem dieses älteren Herrn? Niemand wird in Deutschland gezwungen, sich an die NS-Diktatur zu erinnern. Keiner muss an den Gedenkveranstaltungen für die Opfer teilnehmen, sich die Filme über die NS-Diktatur im Fernsehen anschauen. Es gibt keine Besuchspflicht für Gedenkstätten. (Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung nimmt ja bekanntlich nicht aktiv an erinnerungskulturellen Veranstaltungen teil.) Warum also schreibt der Autor einen so langen und so problematischen Text dagegen? Wann hat er selbst es tatsächlich erlebt, dass jemand einmal versucht hätte, ihm eine „ewige Schuld“ aufzubürden?

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Die gesamte europäische Einnerungskultur ist seit ca. 1620 Jahren antisemitisch. Das wird auch so bleiben, wenn an Karfreitagen und bei allen anderen Gelegenheiten auch die "Kreuzzüge" gegen "die Juden als Mörder von Jesus" begangen werden. Der Antisemitismus, wie er über den Glauben aurechterhalten wird, ist gleichzeitig ein Krieg gegen das Volk, und damit gegen die Identität des eigenen Religionsstifters. Widersinniger geht nicht

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Hallo,
freue mich sehr über Ihr Kommentar, danke! Die Aufarbeitung der NS-Zeit in der eigenen Familie in Deutschland hat erst begonnen und sie macht auch Angst...Mehr davon würde uns allen gut tun.

Antwort auf von Helene Kolb (nicht registriert)

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Da gibt es zu viele Fragen, die erst spät offen wurden. Ich habe sie erst 20 Jahre später bewußt gesehen, die morgendlichen verweinten Augen der Mütter. Als Kinder waren wir zu unbefleckt von der Welt und den Grausamkeiten. Wir kannten den Vater nicht, der dann eines Tages vor der Tür stand. Aber jetzt sehe ich wieder die Verzweiflung, die Not, die Hilflosigkeit der Mütter in der gesamten Nachbarschaft. Jetzt kann ich das Tränenmeer ermessen, in dem wir und viele andere 8 Jahre aufwuchsen. Wir wurden und fühlten uns in Stich gelassen und haben dieses Gefühl nie vergessen können, sondern nur unterdrückt. Auch wenn viele dieser "Auchopfer" das heute gar nicht mehr wissen möchten. Unterschwellig ist noch mehr da, als offen zutage treten kann. Bei vielen von hatte die wiedergewonnene Lebensfreude einen schweren Stand.
Die Schuldfragen den alten Familien aufladen ist eine Seite. Die Mütter und Kinder als die Opfer ihrer Zeit zu verstehen, geht an den jetzigen "Schuldzuweisern" vorbei. Was damals der Staat verbrochen hat, machen jetzt viele mit ihrem Egoismus in den zerbrochenen Partnerschaften. Kinder in solchen "Privatkriegen" sind immer noch die Verlierer in Friedenzeiten.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur