Fühlt euch wie zu Hause
Damit Fremde nicht mehr fremd sind, braucht es gute Gastgeber:innen. Die gibtʼs in diesem Land doch!
Patrick Desbrosses
27.10.2021

Vorgelesen: Auf ein Wort "Fühlt euch wie zu Hause"

Das erste groß inszenierte Willkommen, das ich wahrgenommen habe, war 2006: Fußball-WM in Deutschland mit dem Motto "Die Welt zu Gast bei Freunden". Ich war zehn und habe Herbert Gröne­meyer heute noch im Ohr, wie er grölte: "Zeit, dass sich was dreht!" Seitdem hat sich viel gedreht, erst hin zu einem Höhepunkt der Willkommenskultur im Jahr 2015 und dann in die andere Richtung. Und jetzt? Willkommen in Deutschland nach der Bundestagswahl im Jahr 2021. Die politische Mitte ist gestärkt, die politischen Ränder geschwächt und die Rechtsextremen haben verloren. Ein Land, in dem man endlich wieder "zu Gast bei Freunden" sein kann?

Patrick Desbrosses

Anna-Nicole Heinrich

Anna-Nicole Heinrich, geboren 1996, ist seit Mai 2021 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie studiert in Regensburg Philosophie, Digital Humanities und Menschenbild und Werte. Sie ist außerdem Mit-Herausgeberin von chrismon, Mitglied der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorstandsmitglied der evangelischen Jugend in Deutschland e.V.

Im Sommer war ich – frisch im neuen Amt – vier Wochen lang unterwegs quer durch die Republik auf #Präsestour. Unter dem Motto #unterwegszuhausesuchen habe ich mich dabei gemeinsam mit einer Freundin vom Zufall treiben lassen. Zwei Regeln: öffentliche Verkehrsmittel nutzen und Privatunterkünfte aufsuchen. Das war aufregend! Zum Gelingen beigetragen haben besonders die herzlichen Gastgeber:innen, die uns an allen Orten Herberge gegeben haben.

Für die meisten waren wir Wildfremde, und trotzdem haben sie uns ihre Gartenhütte oder die Couch im Wohnzimmer überlassen, Feldbetten in die Wohnung gestellt und die Balkontür offen gelassen, damit wir auch spät nachts einfach kommen konnten. Alle haben gesagt: Fühlt euch wie zu Hause, und das taten wir auch, egal wie fremd wir an einem Ort waren. Überall entstand schnell das Gefühl: Wir sind "zu Gast bei Freunden".

Tagsüber – meist gut gestärkt durch Gespräche am Vorabend und Pancakes zum Frühstück – haben wir dann in den Städten Projekte, Initiativen und spannende Menschen besucht. Eine davon war "Freund statt fremd". Ihr Anliegen ist es, geflüchteten Menschen, die in Bamberg ankommen, in einer für sie fremden Umgebung ein bisschen Orientierung und Kontakte zu bieten.
Wir haben das "Café Willkommen" besucht, das sie am Rand der Stadt betreiben.

Im Römerbrief (12,13) steht der schlichte Satz: "Übt Gastfreundschaft."

Dort lernten wir auch eine Gruppe junger Männer kennen, mit denen wir uns auf den Weg in die Innenstadt machten. Mit dem Bus, aber zu Fuß wären wir genauso schnell gewesen. Denn der Fahrer des ersten Busses schaute uns an und fuhr, ohne anzuhalten, weiter. Stehengelassen – ausgegrenzt. Ein Gefühl, das mir bis dahin völlig fremd war. Dass Türen zu bleiben, war ich auf der Tour nicht gewohnt. Ich war ziemlich ungehalten und glaube, der erst wenige Tage in Deutschland lebende Ahmed hat von mir sein erstes deutsches Schimpfwort ­gelernt. Meine Begleiter meinten nur, ich solle mich ent­spannen, und einer sagte: "Der kennt uns halt nicht", lächelte und drehte sich zum Fahrplan, um zu schauen, wann der nächste Bus kommt. Sie wollten dem Busfahrer nicht unterstellen, dass er aus Fremdenfeindlichkeit nicht angehalten hat, auch wenn ich eindeutig den Eindruck hatte.

Beim Warten auf den nächsten Bus waren wir uns ­einig: Es braucht viel mehr Gelegenheiten für ­Begegnungen, um aus Fremden Freunde zu machen, um Menschen, die sich sonst nicht begegnen, miteinander ins Gespräch zu ­bringen und Ängste abzubauen. Und das ist alles viel schwerer getan als gesagt, denn diese Begegnungen ­entstehen selten spontan, sondern müssen angestoßen werden und leben von guten Gastgeber:innen.

Im Römerbrief (12,13) steht der schlichte Satz: "Übt Gastfreundschaft." Das ist jetzt kein Aufruf an die FIFA, wieder eine Fußball-WM in Deutschland auszurichten, sondern ein Aufruf an uns alle, Gastfreundschaft zu üben, nicht nur, wenn jemand auf der Suche nach Herberge an unsere Tür klopft, sondern immer − im Bus, in der Nachbarschaft und in der Politik. Es wird Zeit, dass sich was dreht!

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