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Mit der Pest leben – und mit Corona
In Wittenberg ist eine hochinteressante Ausstellung über die Pest zu sehen. Hier kann man lernen, dass es die berühmten Schnabelmasken der Pestärzte eigentlich gar nicht gegeben hat. Vor allem aber kann man etwas darüber erfahren, wie Protestanten mit Seuchen umgehen (sollten).
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
15.10.2021

In Wittenberg eine Ausstellung über die Pest zu zeigen, ist bitter-passend. Denn in der Reformationszeit wurde auch diese Stadt etwa alle zehn Jahre von einer Welle heimgesucht. Wer das weiß, versteht die religiöse Glut und apokalyptische Stimmung dieser Epoche besser.

Zugleich begann in der Reformation ein anderer Umgang mit der Seuche. Die klassischen Rezepte der mittelalterlichen Kirche standen nämlich nicht mehr zur Verfügung: die Anrufung von Heiligen, Prozessionen und Wallfahrten. Stattdessen erfanden die Protestanten eine neue Literaturgattung: Sie schrieben Pest-Traktate, versuchten also die Krankheit zu deuten und den Umgang mit ihr vernünftig zu gestalten. (Was viele der Neugläubigen nicht davon abhielt, es zugleich mit Amuletten zu versuchen.)

Auch Philipp Melanchthon hat sich schriftlich geäußert. Bei ihm zeigt sich beispielhaft, wie Protestanten mit einer Seuche umgehen sollten – und es heute noch hoffentlich tun. So ergeben sich einige Assoziationen zur Gegenwart. Stefan Rhein, Direktor der Luther-Gedenkstätten, hat dies in einem sehr lesenswerten Fachaufsatz vorgestellt.

Wie alle Reformatoren hat Melanchthon erstens dafür geworben, auf die Wissenschaft (oder was man damals dafür hielt) zu hören und nicht auf abergläubige Verschwörungsgeschichten, sich an Ärzte zu wenden und nicht an Heilige. Deshalb gab er seinen Lesern (im Rahmen seiner Möglichkeiten) vernünftige Ratschläge und bewährte Rezepte. Zweitens trat er dafür ein, dass alle den sinnvollen Regelungen der Obrigkeit (vor allem was die Quarantäne anging) Folge leisteten. „Systemrelevante“ Personen wie Ärzte und Pfarrer sollten an ihrem Ort bleiben, um sich um die Erkrankten zu kümmern. Alle anderen sollten auf Distanz gehen. Drittens warb er um Ruhe und Besonnenheit, trat also denen entgegen, die Hass und Panik schürten. Schließlich predigte er Gottvertrauen. Auf verstiegene theologische Erklärungen des Übels verzichtete er und blickte stattdessen auf Christus. All dies erscheint mir heute noch als sinnvoll.

Eins fehlte bei Melanchthon, was für die christlichen Reaktionen auf die Seuche über lange Zeit prägend war: der Judenhass. Besonders im Mittelalter führten der Schrecken der Pest, die Angst, die Unwissenheit dazu, dass die Mehrheit die Schuld bei einer Minderheit, also den jüdischen Gemeinden, suchte, was vielerorts zu schrecklichen Pogromen führte. Melanchthons Schriften sind davon frei. Wenn ich mich recht erinnere, zog auch Luther, der sich bekanntlich vor allem in späteren Jahren häufig judenfeindlich geäußert hat, in seinen Pestschriften keine Verbindung zwischen Seuche und Juden. Aber das müsste ich überprüfen. Wie es sich mit den anderen ungefähr 600 protestantischen Pestschriften verhält, weiß ich nicht. Wichtig ist mir umso mehr Melanchthon, weil er zeigt, dass man damals kein Judenfeind sein musste. Man konnte auch anders.

Zum Schluss zur Schnabelmaske. Es scheint solche Kostümierungen gegeben zu haben. Denn man glaubte, dass die Krankheit durch „schlechte Luft“ verbreitet würde, also bauten sich einige italienische Ärzte solche Rüssel, in die sie wohlriechende Essenzen steckten. Aber das war eine Seltenheit. Erst durch protestantische Karikaturen vermeintlich rückständiger Italiener wurde daraus das Bild der Pest schlechthin.

P.S. Über die Pest-Ausstellung habe ich mit Stefan Rhein ein Gespräch in meinem Podcast geführt. Bei Interesse bitte hier klicken.

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