chrismon: Herr Rau, Sie wollen nicht weniger als die Welt verändern. Sind Sie ein Missionar?
Milo Rau: Vielleicht eher eine Art Evangelist. Ich beschreibe die Welt, aber ich möchte sie auch verändern. Ich mache Filme und Theaterstücke, aber ich habe auch überhaupt kein Problem damit, ein Manifest zu verfassen, um einige Dinge klarer zu machen. In meinen künstlerischen Werken bin ich immer sehr vieldeutig, weil ich ja Menschenkunst mache und keine Parteikunst. Beim "Neuen Evangelium" . . .
. . . Ihrem Film über einen heutigen Jesus . . .
Rau: . . . war mir gleichzeitig wichtig, dass jeder, der mitspielt, nachher Papiere und eine Aufenthaltsberechtigung hat. Die Leute sollten nach dem Dreh ein Leben haben, das der Botschaft des Films entspricht.
Bei Ihnen, Herr Triegel, würde man das Missionarische eher erwarten . . .
Michael Triegel: In der Öffentlichkeit klingt es so, als würde ich von früh bis spät Altäre malen – dabei waren es nur fünf. Johann Sebastian Bach gilt als der fünfte Evangelist, diese Bezeichnung könnte auch ich als Künstler für mich eher akzeptieren. Das heißt ja: zuhören, genau hinschauen, aufzeichnen. Wie das dann interpretiert wird, habe ich nicht in der Hand. Möchte ich auch nicht, Kunst muss offen sein für Interpretationen. In erster Linie male ich für mich, um mit dieser Welt klarzukommen. Ich kann nur hoffen, dass meine Bilder zu einer Diskussion führen, zu einer Spiegelung beitragen. Vor drei Jahren habe ich in Baunach einen großen Altar gemalt, "Menschwerdung", ein Bild, das den Weihnachtsmythos auch in der Passion spiegelt. Nach der Weihe ist eine alte Frau zu mir gekommen und sagte: Ich konnte seit Jahren in dieser Kirche nicht beten, und nun kann ich es wieder. Was für ein Geschenk.
Michael Triegel
Milo Rau
Rau: Mich haben Ihre Bilder sofort angesprochen. Jemand anderes könnte aber auch sagen: Es ist mir zu altertümlich. Oder: Es ist mir zu krass. Oder umgekehrt: Es ist mir nicht nah genug am Mythos dran. Aber mich berühren sie extrem, weil es diesen mitleidenden Blick gibt. Und eben die ganzen Widersprüche, die ganze Heutigkeit im scheinbar Altmeisterlichen Ihrer Kunst. Eine Art Verklärung des Gewöhnlichen, die mir sehr gut gefällt.
Triegel: Mir wird zuweilen die Frage gestellt, ob sich meine Kunst nicht dem Politischen entzieht. Ich finde: Kunst muss genau so politisch sein, wie es der Absicht des Künstlers entspricht. Das Theater von Bertolt Brecht beispielsweise ist hochgradig politisch, aber auch hohe Kunst. Beethovens "Fidelio", eine politische Oper, großartige Kunst. Die "Kunst der Fuge" von Bach scheint mir jetzt nicht so wahnsinnig politisch zu sein, ist aber eines der größten Kunstwerke der Menschheit. Es ist also vielmehr die Frage, ob ich die Ansprüche, die ich selbst an die Kunst stelle, einlöse.
Und der Betrachter, die Betrachterin?
Triegel: Die müssen mit dem Kunstwerk umgehen. Es kann passieren, dass ein Künstler ein vollkommen unpolitisches Kunstwerk schafft, beispielsweise ein Blumenstillleben – Schönheit der Form. Und dann kommt jemand, der darin ein Vanitassymbol sieht, ein Umweltaktivist, der darin erkennt, wie etwas Zartes zerstört wird. So politisiert sich ein unschuldiges Kunstwerk und wird durch die Rezeption geprägt. Es ist Aufgabe des Künstlers, diese Offenheit zu ermöglichen, sonst kann schnell Propaganda entstehen.
Herr Triegel, Sie wollen vom Sichtbaren zum Unsichtbaren kommen – erklären Sie uns das?
Triegel: Ich bin fasziniert von dem, was ich sehe, was ich wahrnehme. Eine Oberfläche, einen Gegenstand, ein Gesicht. Aber bei einem Porträt vertraue ich auch darauf, dass sich im Antlitz widerspiegelt, was in dieser Person angelegt ist. Wie man ein Leben lebt, zeichnet sich im Gesicht ab. Wenn ich allerdings die großen Themen behandle, Transzendenz, Gott, dann muss ich natürlich mit dem umgehen, was ich nicht fassen kann. "Transcendentia" bedeutet "das Übersteigen", etwas, das sich dem normalen Bereich von Erfahrung und Sinneswahrnehmung entzieht, das meine Sicht auf die Welt im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. Gerade deshalb aber muss ich immer zuerst das in den Dingen Enthaltene, die Immanenz, untersuchen. Ich kann so versuchen, den Schöpfer in der Schöpfung zu spiegeln. Ich kann aber auch Leerstellen lassen – sie werden oft in meinen Bildern Holzpuppen finden, Verhüllungen, leere Gewänder, etwas Verdecktes. Das verweist ja auf etwas Abwesendes, das aber gerade dann vielleicht umso präsenter ist.
"Das will ich: das Gewöhnliche und Elende, die Gewalt in der Welt in ein Heilsversprechen überführen" - Rau
Sie, Herr Rau, machen in Ihren Stücken und Filmen die Unsichtbaren sichtbar, die Geknechteten, die Traumatisierten . . .
Rau: Bei mir müssen die Leute nicht noch mal erzählen, dass sie Opfer sind. Ich biete ihnen eher einen utopischen Raum, in dem sie handeln können. Aktivisten, die keine Papiere haben, werden zu Aposteln. Manche von ihnen sind Muslime oder Atheistinnen. Klar hätte ich Schauspielern Sandalen und Kutten anziehen können und noch mal einen Jesusfilm machen wie Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson. Aber als ich gemerkt habe, dass um Matera, um eine Kulturhauptstadt Europas, 500 000 Erntehelfer wie Sklaven leben und Tomaten oder Orangen pflücken, wusste ich: Das muss in den Film rein! Was Kunst kann: um die Wirklichkeit herum einen Rahmen setzen. Jesus geht durch die Slums seiner Zeit und sammelt die heutigen Letzten zusammen und macht sie zu den Ersten, wie es in der Bibel heißt. Jede Gruppe kann die revolutionäre Gruppe sein, die uns die Menschlichkeit zurückbringt. Es können die Zöllner, die Prostituierten, die Farmarbeiter sein. Das will ich: das Gewöhnliche und Elende, die Gewalt in der Welt in ein Heilsversprechen überführen.
Der Jesus von Milo Rau ist ein sozialrevolutionärer Jesus. Teilen Sie das, Herr Triegel?
Triegel: Mein Jesus, an den ich glaube, ist das auch. Wenn man die Botschaft des Evangeliums ernst nimmt, kann man ja nicht anders als für Menschen eintreten. Aber mir fehlt etwas: In Ihrem Film gibt es keine Krankenheilungen. Mir persönlich ist der Christus medicus ungemein wichtig, der Heilung nicht nur für seine unmittelbare Jüngerschar, sondern für alle Menschen bringt. Und es gibt keine Auferstehung, nur die eine Wunderszene, in der Jesus übers Wasser wandelt. Warum eigentlich, Herr Rau?
Rau: Der Jesus im Film, gespielt von dem Aktivisten Yvan Sagnet, ist kein Mensch, der Kranke heilt, das ist nicht seine Art, er ist im Kampf mit den Landarbeitern tätig. Seine Auferstehung ist die politische Botschaft, dass die Menschen ganz konkret eine Würde, einen Namen bekommen. Ich kann total verstehen, dass die Krankenheilung, die Auferstehung zutiefst berührend sind als Schrift. Und ehrlich gesagt habe ich das auch gedreht, aber all das hat in meinem Film nicht funktioniert. Die Krankenheilung, die Auferstehung sind im Film, aber transformiert in andere Bilder. Da ist man wohl gefangen in dem Blick, den man nun mal hat.
Triegel: Ich bin in der DDR groß geworden. Als Kinder haben wir überformte Heiligenlegenden erzählt bekommen – von Märtyrern, die für den Kommunismus gestorben sind, Ernst Thälmann, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei, der von den Nazis ermordet wurde. Oder Lenin: In seinem Mausoleum wird die Auferstehung des Fleisches schon auf Erden vollzogen. So konnte man die Überlegenheit des Kommunismus beweisen. Während der Christ auf die Auferstehung des Fleisches im Jenseits irgendwann wartet.
Rau: Ich bin instinktiv ein sehr gläubiger Mensch, aber im metaphysischen Sinn bin ich nicht gläubig. Im Herzen ein Katholik, im Kopf ein Marxist, wie man über Pasolini sagt. Ich glaube: Die Einsamkeit des Todes überwinden wir nicht mit dem Glauben an Auferstehung, sondern mit Solidarität, mit Freundschaft, mit Kampf. Diesen Dingen kann ich Ausdruck geben.
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Und trotzdem haben Sie einen Jesusfilm gedreht.
Rau: Ja. Ich habe mich gefragt: Warum wurde die Geschichte so geschrieben? Warum geht es in der Bibel – und auch bei Ihnen, Herr Triegel – auf dem Weg zur Transzendenz immer um die Zerstörung des Körpers, die Zerstörung des Physischen? Es ist ja eine sehr traurige Geschichte, wie diese Freundschaften zerbrechen: Wenn Petrus sich bewusst wird, wie schwach er ist und was mit ihm geschehen ist unter dem Druck des römischen Terrorregimes. Die Enttäuschung von Judas – er hat mehr erwartet von Jesus, und dann revoltiert er in dieser Enttäuschung, so sehe ich das. Nach meiner Erfahrung ist die Welt schwierig, tödlich, grausam. Nur gemeinsam können wir sie besser machen.
"Sobald man sich nackt macht, ist die Gefahr groß, verletzt zu werden" - Triegel
Triegel: Es geht in der christlichen Ikonographie und auch in meiner Arbeit häufig um die Wunde. Um den Körper, der versehrt ist – oft genug als Zeichen einer verletzten Seele. Das ist eine Möglichkeit, Menschsein als Verletzbarsein zu zeigen. Und über die Schutzlosigkeit auch eine Nähe herzustellen, zum Mitleiden aufzufordern. In etlichen meiner Bilder zeige ich eigene Wunden. Das ist ja problematisch in der heutigen Zeit: Sobald man sich nackt macht, ist die Gefahr groß, verletzt zu werden. Wo die Gesellschaft darauf aus ist, dass man sich stark, jugendlich und unversehrt zeigt.
Rau: In den Geschichten, die die Bibel erzählt, gibt es überhaupt keine Unversehrtheit, keinen safe space für Jesus und seine Apostel, da wird die ganze Härte der Revolte erzählt, bis zum Ende. Mit meinem Team gehe ich immer wieder von Neuem auf die Suche nach dem Jenseitigen im Diesseits: Auch wenn man unterliegt, hat man doch gewonnen. Weil man es getan hat. Man weiß ja, dass Jesus am Schluss gekreuzigt wird. Das ist nicht mehr spannend. Dann fragt man sich, wie macht man denn diese Menschen interessant, wie kann es sein, dass wir unendlich und doch sterblich sind? Warum setzt sich ein Gott dieser Sache aus, was will er uns damit lehren? Als Marxist interessiert mich auch: Wie können wir die Bedingungen, in denen wir leben, so verändern, dass wir diese Heldengeschichte nicht mehr erzählen müssen, dass wir keine Helden mehr brauchen?
Triegel: Ja, die erschütterndsten Szenen der Bibel sind die des Verrats. Aber das Großartige ist doch, dass es deshalb auch ein Buch geworden ist für Leute, die nicht glauben. Als Mythos, der die Gesamtheit menschlicher Existenz abbildet. Freundschaft, Einsamkeit, Verrat, Schmerz, Trauer, Zuwendung. Das macht es für mich so ungeheuer berührend.
Und das treibt Sie an, Herr Triegel?
Triegel: Ich will mir ein Bild über diese Welt machen – mit meinen Schmerzen, Verletzungen oder Freuden. Für mich ist Kunst eine Möglichkeit, nicht durchzudrehen, und Weltanschauung in einem. Wenn ich zum Beispiel einen Altar male, muss ich als Erstes überlegen, hat das was mit mir zu tun, berührt mich das? Und dann muss ich versuchen, die mythische Erzählung so glaubhaft zu machen, dass der Betrachter, die Betrachterin das Gefühl hat, dass sie diesen Personen begegnen könnten. Deshalb denke ich mir nicht die ideale Maria aus, sondern meine Frau oder meine Tochter sitzen mir Modell. Ein Johannes kann ein junger schwarzer Mann sein. Petrus male ich als jemanden, den ich als Bettler vor einer Kirche in Rom sah.
Wie abhängig sind Sie als Künstler von Auftraggebern?
Rau: Bei mir gibt es eigentlich keine privaten Auftraggeber, sondern es sind Institutionen. Die sind aber genauso fragwürdig, wie das ganze System, in dem wir leben, fragwürdig ist. Trotzdem: Ich habe direkte Aufträge immer gemocht – wie den der Kulturhauptstadt Matera, ein Projekt für sie zu machen. Das ist eine konkrete Notwendigkeit, eine Frage. Aber dann wurden plötzlich die Leute, die auf den Feldern arbeiten, meine Auftraggeber. So ist das immer.
"Die Utopie, dass Kunst über den Warencharakter hinausgeht, wäre mir wichtig" - Triegel
Triegel: Wenn ich einen Auftrag nicht ganz zu meinem eigenen machen kann, lehne ich ihn ab. Die bildende Kunst hat sich auf ungute Weise kapitalisiert. Das Wichtigste ist allzu oft der Preis. Der scheint dann auch die Wertigkeit des Kunstwerks zu reflektieren. Künstler sollten es wieder stärker in den Blick nehmen, unabhängig vom Preis zu arbeiten. Es geht nicht darum, für 56 Millionen an einen russischen Oligarchen zu verkaufen oder den "Salvator Mundi" von Leonardo – der vermutlich gar nicht von Leonardo ist – in einem Safe verschwinden zu lassen. Er gehört den Menschen, viele sollten sich mit ihm auseinandersetzen. Ich bin nicht so naiv, dass ich mir mittelalterliche Kunstverhältnisse wie Kathedralenwerkstätten zurückwünsche. Aber wenigstens die Utopie, dass Kunst über den Warencharakter hinausgeht, wäre mir wichtig.
Rau: Unsere Kunst unterscheidet sich unter anderem darin, dass die Beziehung zum Publikum bei mir sehr direkt ist. Pro Theaterabend bekommt man 200 oder 300 Euro Autorenrechte, und wenn man keinen Abend zeigt, bekommt man null Euro. Du kannst dich im Verlauf deiner Karriere in den Gagen steigern, aber die 56-Millionen-Sache, die gibt es im Theater nicht. Das ist wie beim Pizzabäcker: Ohne Pizzas kein Verdienst, es bleibt ein einfaches Applausverhältnis. Das ist so vom Anfang bis zum Ende deiner Karriere, während man als bildender Künstler, hat man es geschafft, ja allein schon wegen der Ökonomie des Kunstmarkts nicht mehr entwertet werden kann. Wir stecken im freien Theater in einer Art Wanderzirkuslogik fest. Ich mag das aber sehr. Ich mag die Debatten, ich mag die Missverständnisse. Von einem Werk gibt es immer verschiedene Lesarten, die emotionale Lesart, die politische Lesart. Wenn ich die Leute dazu bringe, fair gehandelte Tomaten zu kaufen, habe ich was erreicht. Viele sitzen ja dem modernen Märchen auf, dass Nachhaltigkeit zu teuer ist, dass es sein muss, Menschen zu erniedrigen und zu Sklaven zu machen. Dabei geht es nur darum, dass der Produzent mehr bekommt, dass der Gewinn fair verteilt wird, der Preis bleibt gleich.
Kunst braucht also beides, Aktivismus und Transzendenz?
Rau: Wenn ich das ganz simpel sagen darf: Für mich ist das das Gleiche. Der Weg zur Transzendenz ist für mich der Aktivismus. Transzendenz heißt, um im Beispiel der Erntehelfer zu bleiben: Man erobert sich seine Würde zurück. Im Kino, im Supermarkt, im eigenen Leben. Mehr will ich nicht.
Triegel: Ich finde: Die Suche nach Transzendenz setzt uns in Bewegung. Erreichen werden wir sie hier ohnehin nicht, wir können sie nur anstreben. Und uns aufmachen.
Michael Triegels Werke behandeln oft mythologische Figuren und christliche Themen. Mit einer ähnlichen Technik wie die alten Meister schafft er teils großformatige Gemälde, Grafiken und Altarbilder. Da gibt es oft irritierende Momente: Sein Hochaltarbild "Menschwerdung" (zu sehen in St. Oswald zu Baunach) zeigt die Geburt Christi. Jesus ist allerdings nicht in Stroh gebettet, sondern schwebt in einer Fruchtblase frei im Bild – als wäre die Auferstehung bereits vorweggenommen.
In der Ausstellung "Cur Deus – Warum Gott?" beschäftigt sich Michael Triegel mit der Theodizeefrage: "Kann es angesichts menschlichen Leids und Unheils einen gerechten und gütigen Gott geben?" Ältere Werke Triegels stehen eigens für die Ausstellung geschaffenen Bildern gegenüber. Noch bis zum 6. Juni 2021 im Schaudepot an der Kunsthalle Rostock. "Das Neue Evangelium" von Milo Rau gibt es als DVD (EuroVideo Medien) und lässt sich online streamen.