Titelthema - Pflege
Titelthema - Pflege
Evelyn Dragan
"Willst du nicht ­lieber Medizin ­studieren?"
Simon, Daniela und Sang haben gerade gemeinsam ihr Examen in Krankenpflege gemacht – und in ihrem Beruf noch einiges vor.
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
Privat
23.02.2021

Simon Knop, 23:

Als ich in das Krankenzimmer kam, schlug der Mann im vorderen Bett zappelnd um sich. "Der kriegt keine Luft mehr!", rief ein anderer aufgeregt, er hatte den Schwesternruf gedrückt.

Ich war erst ein paar Wochen im Krankenhaus, meine Ausbildung hatte gerade begonnen. Ich drückte noch einmal den Rufknopf – für die Kolleg:innen draußen klingelt es dann Alarm. Der Patient war jetzt in sich zusammengesackt, er reagierte nicht, ich fand keinen Puls. Ich begann mit der Herzdruckmassage: die ­Hände auf das Brustbein, zweimal pro ­Sekunde drücken, im Rhythmus des Bee-Gees-Hits "Stayin’ alive". Das ­hatten wir zum Glück gerade in der Schule durchgenommen. Aber ein Mensch fühlt sich viel weicher und zerbrechlicher an als die Übungspuppe, und ich weiß, dass dabei manchmal die Rippen brechen. Bald ging die Tür auf, und die Profis übernahmen. Sie waren erfolgreich, der Patient überlebte, aber nur für wenige Stunden. Er verstarb am Nachmittag.

Du hast alles richtig gemacht, sagten mir später die anderen, aber ich haderte: Hätte ich schneller loslegen sollen, das Bett noch tiefer stellen? Ich wollte es genau wissen, mich sicherer fühlen, und buchte einen zweitägigen Kurs zur Notfallversorgung nach Herzstillstand. Die Gebühr, ein paar Hundert Euro, bezahlte ich selbst. Es hat sich gelohnt. Im Laufe der drei­jährigen Ausbildung habe ich vier weitere Reanimationen erlebt. Das sind krasse Situationen. Wenn man nicht richtig reagiert, stirbt ein Mensch.

"Meine ­Schwester ist mit 31 an Krebs gestorben. Ein Pfleger kümmerte sich um sie. Seine Art tat ihr gut"

Warum hast du nicht Medizin ­studiert? Das fragen die Leute oft. Ehrlich gesagt: Mit einem besseren Abi hätte ich das wahrscheinlich gemacht. Oder Psychologie, das interessiert mich fast noch mehr. Aber mein Notenschnitt war 2,6, da hätte ich ­jahrelang auf einen Studienplatz ­warten müssen. Ich fand, Pflege war eine gute Alternative. Meine ­Schwester ist mit 31 Jahren an Krebs gestorben.

Die letzten Wochen lag sie in dem Krankenhaus, in dem ich ­später lernte. Ich war damals fünfzehn und besuchte sie nach der ­Schule auf der Palliativstation. Sie war un­ruhig, wollte etwas sagen, konnte sich aber nicht mehr gut ausdrücken. Ein Pfleger kümmerte sich um sie. Er war noch ziemlich jung, aber seine sichere, besonnene Art tat meiner Schwester total gut. Man merkte richtig, wie sie sich entspannte. Pflege hatte für mich nie ein schlechtes Image.

Ich brauche es auch nicht für mein Selbstwertgefühl, als "Herr Doktor" angesprochen werden. Die Patient:innen nennen mich Simon oder Herr Knop – und manchmal einfach auch "Schwes­ter". Darüber lache ich einfach.

Die Hierarchie im Krankenhaus ist ja auch nicht mehr so wie ­früher. Der Halbgott in Weiß, dem die ­Schwes­tern alles hinterhertragen – das kenne ich nur aus Erzählungen meiner älteren Kolleginnen. Auf unserer Station ist das recht entspannt. Junge Ärzte ­fragen erfahrene Pflegekräfte auch mal um Rat. Wir arbeiten partnerschaftlich zusammen. Eigentlich. Letztendlich aber haben die Ärzte die Entscheidungsgewalt. Ob der Patient eine spezielle Matratze braucht, um nicht wund zu liegen. Welcher Verband auf die Wunde muss. Pfleger:innen sind Experten darin. Aber trotzdem brauchen wir für all das ­eine ärztliche Anordnung.

"Ich weiß, was gute Pflege bewirken kann"

Und wenn ich mal anderer Meinung bin und etwas tun muss, was ich nicht für richtig halte? Klar, mit einigen Ärzten kann man darüber reden, das tue ich auch, aber es bleibt ein Gefälle. Das ärgert mich. Ich habe so viel gelernt in der Ausbildung. Ich möchte gern selbstständiger und eigenständiger arbeiten. Denn ich weiß doch, was gute Pflege bewirken kann.

Ich war mit anderen Auszubildenden einmal zuständig für eine Gruppe von Patient:innen, darunter eine etwa fünfzigjährige Frau mit einer geistigen Behinderung. Sie lebte in einer betreuten Wohngemeinschaft und war wegen eines Infekts im Krankenhaus. Die geschwächte Frau stand nicht mehr auf, nahm kaum etwas zu sich. Sie hatte keinen Appetit und verschluckte sich schnell. Deshalb sollte sie ­eine Magensonde bekommen: einen Schlauch, der durch die Bauchdecke in den Magen führt. Über diesen läuft dann flüssige Kost. Damit verhungert sie nicht, hat aber eine offene ­Wunde am Bauch, die Zunge kann aus­trocknen, sich ein Pilz bilden.

Die Autorin Hanna Lucassen schreibt im chrismon-Blog "Pflege-Leicht?" über ihre Erfahrungen als Reserve-Pflegerin in der Corona-Pandemie.

Wir Azubis setzten uns viel zu ihr, zerdrückten Bananen auf einem Teller, versuchten es mit Joghurt. Wir sorgten dafür, dass eine Logopädin mit ihr an der Schluckstörung arbeitete. Es war ein Schülerprojekt, wir hatten keinen Zeitdruck, durften pflegen, wie wir es gelernt haben. Die Frau blühte auf, wurde immer fröhlicher, begann mit uns zu scherzen und auch zu essen. Irgendwann eine Portion Lasagne, von ihrer Mutter mitgebracht. Eine Sonde brauchte sie nicht mehr.

Daniela Donges, 22:

Daniela Donges, 22, arbeitet seit November 2020 in einer Intensivstation für  Covid-Patient:innen in Gießen

Ich hatte das Examen noch nicht in der Tasche, da konnte ich schon zwischen vier Stellen auswählen. Die Vorstellungsgespräche waren surreal. Ich saß da mit gebügelter Bluse, im Kopf gut durchdachte Antworten. Schließlich wollte ich als Berufsanfängerin auf die Intensivstation, das muss ich sicher gut begründen. Aber die Personalchefs stellten mir kaum Fragen. Stattdessen erzählten sie: vom guten Einstiegsgehalt, dem tollen Team, Fortbildungen, die ich machen könnte. Sie warben um mich.

Ich fühlte mich willkommen. ­Eigentlich war das von Anfang an so. Nach dem Abi jobbte ich ein halbes Jahr in einem Chemielabor, bewarb mich bei meiner Wunschpflege­schule, hatte ein gutes Gespräch, bekam den Platz. Mein Lehrer hätte das nicht verstanden. Ich war auf einem sehr leistungsorientierten Oberstufen­gymnasium. Er sagte mal: Sie ­brauchen nicht hier das Abitur zu machen, um dann ­später nur eine Ausbildung anzufangen. Er wollte uns wohl in Spitzenpositionen sehen. Das macht Druck, aber deswegen studieren? Im Gesundheitswesen gibt es viele spannende Berufe, ­meine Stiefmutter etwa ist Hebamme. In der Pflege bin ich nah dran an den Menschen, das gefällt mir. Für die Prüfungen musste ich übrigens doppelt so viel lernen wie für das Abi.

Vor dem Examen Daniela Donges übt in ihrer Schule an einer Puppe. Sie verbindet einen venösen Zugang

Inzwischen bin ich nun auf einer Intensivstation für Covid-Patient:innen. Geräte, Schläuche, Hightechmedizin, gleich das volle Programm. Mich reizt das. Ich lerne viel. Und: Während ich auf anderen Stationen zwanzig oder dreißig Patient:innen im Blick habe, kümmere ich mich hier um zwei oder drei Schwerstkranke. Diesen bin ich nah. Zeitdruck aber ist überall.

Manchmal ist es eben so: Man will einer Frau nur schnell die Tabletten geben, da fragt sie: "Warum darf man nicht einfach sterben, wenn man möchte?" Wir wissen alle: Jetzt bitte keine Floskel, kein "Das wird schon wieder". Man sollte jetzt bei ihr bleiben und nachfragen, in der Ausbildung haben wir das aktive Zuhören gelernt. Aber was, wenn dann die anderen Patient:innen warten müssen? Schon als Schüler:innen im ersten Semester merkten wir: Wenn wir pflegen, wie wir es in der Schule lernen, sind wir die lahmen Enten der Station. Und machen uns unbeliebt.

Ich erinnere mich an eine neue Krankenschwester aus dem Ausland. Ein echter Profi, sagten alle, die hilft den Leuten wirklich. Aber die ­direkten Kolleg:innen klagten: Mann, ist die langsam. Ich habe einmal gemerkt, warum. Abends gingen wir wie üblich durch die Patientenzimmer, halfen beim Zähneputzen und Umziehen, maßen Blutdruck, wo nötig. Dazu teilten wir die Station. Es war halb acht abends, wir waren mit unserer Seite durch, da hatte sie gerade einmal ein Zimmer geschafft. Wir machten dann mit ihren Patient:innen weiter und kamen alle zu spät nach Hause. Sie hat die Probezeit nicht überstanden.

"Eine Pflegerin klebte nicht an Routinen und schaute genau hin. Davon habe ich mir was abgeguckt"

Andere Leute bleiben. In der Ausbildung fuhr ich einmal mit der Mitarbeiterin eines ambulanten ­Pflegedienstes zu einem Patienten. Sie sagte schon draußen vor dem Haus: Hier bleibe ich nur kurz, den mag ich nicht. Als wir drinnen waren, hat sie den ­alten Mann, der immer nur ge­lächelt hat, förmlich aus dem Bett gerissen. Sie hat ihn angeherrscht, er solle jetzt mal schnell machen. Schrecklich abwertend. Ich stand daneben, konnte gar nicht reagieren. Ich habe mich furchtbar unwohl gefühlt.

Aber manche kriegen das hin, ordentlich pflegen, respektvoll bleiben und effektiv sein. Ein letztes Beispiel: Normalerweise wäscht man in der Vormittagsschicht alle Patient:innen, die es nicht allein können. Zügig mit Waschlappen, im Bett oder am Waschbecken. Jemanden duschen, jemandem Haare waschen oder gar baden, das dauert viel zu lange. Auch wenn es extrem wohltuend ist. Eine Pflegerin, mit der ich einmal arbeitete, hat es anders gemacht. Sie entschied: Heute richten wir ein ­duftendes Schaumbad für Frau X, sie hatte gestern einen traurigen Tag. ­Dafür fragen wir Herrn Y, ob ihm eine "Katzenwäsche" reicht, wenn er morgen duscht. Sie hatte Organisa­tionstalent, klebte nicht an Routinen und schaute genau hin. Davon habe ich mir was abgeguckt.

Ich freue mich total auf die ­nächs­ten Jahre. Aber ich weiß jetzt schon, dass ich nicht mein Leben lang als Krankenschwester arbeiten werde. Die Arbeitsbelastung ist zu hoch. Schicht- und Nachtdienste, jedes ­zweite Wochenende arbeiten – jetzt macht mir das nicht so viel aus. Aber was ist, wenn ich 30 oder 40 Jahre alt bin und eine Familie habe? Vielleicht studiere ich doch noch mal. Pflege­pädagogik zum Beispiel, um später mal unter­richten zu können. In meinem Beruf gibt es noch viele Baustellen, irgendwie gefällt mir das. Ich habe das Gefühl, hier gibt es viel zu tun für mich.

Sang Aberuba, 31:

Sang Aberuba, 31, war in Gambia Pfleger für HIV-Infizierte und machte in Deutschland die Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Er arbeitet in Frankfurt in einer chirurgischen Station, wechselt aber bald in die Notaufnahme

In deutschen Krankenhäusern riecht es nach Desinfektions­mittel. Es ist sehr sauber, gut organisiert und ausgestattet. Wenn ich eine Infusion brauche, gehe ich an den Schrank und hole sie heraus. In ­Gambia musste ich mich erst mal durch die ganze Klinik telefonieren: "Habt ihr noch was da?"

Ich bin vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen, für ein Freiwilliges Soziales Jahr. In Gambia war ich ausgebildeter Pfleger für HIV-Infizierte und Aidskranke. Vormittags betreute ich Patient:innen in der Klinik, gab Medikamente aus, nahm Blut ab, überwachte die Therapien. Nachmittags hatte ich in meinem Büro Sprechstunde. Zweimal die Woche machte ich Hausbesuche. Manche Erkrankte lebten isoliert, von der Familie ver­stoßen. Aids ist noch ein Stigma. Auch im Krankenhaus wollten die meisten das geheim halten, vor den Angehö­rigen oder zumindest vor den Bettnachbar:innen. War schwierig, es waren große Räume mit etwa dreißig Betten. Ich habe neulich alte Schwarz-Weiß-Fotos von deutschen Krankensälen gesehen – das hat mich daran erinnert.

In Gambia sind immer Verwandte mit in der Klinik. Sie bringen das Essen mit, wechseln die Bett­wäsche, helfen dem Kranken, sich zu ­waschen, gehen mit ihm zur Toilette. Pfleger:innen machen das nur in Aus­nahmefällen. Abends rollt einer von ihnen seine Matte auf dem Boden ­neben dem Bett aus. Morgens kommt die Ablösung: die Cousine oder Schwester, im Korb einen Topf mit frisch gekochtem Reis mit Erdnussbuttersauce oder Hühnchen. Es riecht im Saal trotzdem kaum nach Essen. Eher nach, wie soll ich ­sagen: Menschen. Die Familien nehmen die Mahlzeiten zusammen auf der Terrasse oder im Garten ein. Tagsüber sind die Betten oft leer. 

"Niemand ist nur krank oder nur gesund"

Mich hat anfangs gewundert, dass in Deutschland die Patient:innen so viel liegen. Ich sage oft: Lassen Sie sich Ihre Kleidung mitbringen. Nicht den Pyjama, sondern Jogginghose, T-Shirt und Pulli. Es ist wichtig, den ge­sunden Anteil in sich zu ­stärken. Das versuche ich immer zu ver­mitteln: Niemand ist nur krank oder nur gesund. Vor ­wenigen Wochen betreute ich einen Mann nach einer Hüft­operation. Durch ­einen früheren Schlaganfall war seine l­­inke Seite teilweise gelähmt, jetzt traute er sich kaum mehr zu, sich im Bett zu ­drehen. Aber er hatte Ressourcen: Er war erst Mitte 60, klar im Kopf und hatte Kraft in der rechten Körperhälfte. Daran muss man ansetzen. Jeden Tag schimpfte er, ich solle ihn in Ruhe lassen. Aber nach vierzehn Tagen saß er zu den Mahlzeiten im Rollstuhl am Tisch. Und er benutzte auch den Toilettenstuhl.

In Gambia sind Krankenschwes­tern und -pfleger hoch angesehen. Man lüftete den Hut, wenn man mit mir sprach, Nachbarn baten mich um medizinischen Rat. In Deutschland ist der Beruf anders. Ich verbringe viel Zeit mit der sogenannten Grundpflege. Das ist in Ordnung, aber ich denke: Wir könnten auch mehr an angelernte Helfer:innen delegieren und hätten mehr Zeit, etwa um ­Patient:innen fachlich zu beraten. Und ihre Angehörigen.

Bei Besuchen ­spüre ich oft Unsicherheit. Was können sie dem Vater Gutes tun? Ich rate oft: Bringen Sie Persönliches mit, die gewohnte Körperlotion, das Aftershave. Und ­natürlich dürfen sie die Wasch­schüssel aus dem Bad holen, dem Kranken ein Fußbad machen. Zurzeit kommen ja keine Besucher:innen, da klingelt ständig mein Telefon, Angehörige wollen Infos. Klar passt es manchmal nicht, etwa während der Teambesprechung am Mittag. Aber wann immer es geht, nehme ich mir Zeit. Sie sind die wichtigsten ­Menschen für die Patient:innen.

Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff

Hanna Lucassen

Hanna Lucassen bedauert es mit den dreien, dass ihre große Abschluss­feier ausfiel. Sie war selbst einmal Kranken­schwester. Auf chrismon.de schreibt sie den Blog "Pflege-Leicht?".
Privat

Evelyn Dragan

Evelyn Dragan und Ramon Haindl sind Fotografen und verheiratet. Evelyn fotografierte den ersten Teil der ­Geschichte, im sechsten Monat schwanger. Ramon übernahm den ­Termin kurz vor der Geburt – ein echtes Familien­projekt. Ihr Sohn wurde Anfang 2021 geboren.

Protokoll: Hanna Lucassen

 

 

"Die wollen was bewegen!"

Pflegeprofessor Michael Bossle spricht im Interview über Karrierechancen im Krankenhaus. Und was wir tun können, damit es Pflegenden besser geht – und damit uns allen auch.

Michael Bossle Melanie Flemme

Michael Bossle

Michael Bossle ist Professor für Pflegepädagogik an der Technischen Hochschule Deggendorf.

chrismon: Drei so motivierte junge Leute in der Pflege – sind das Ausnahmen?

Michael Bossle: Nein. So frisch nach dem Abschluss sind die meisten ­voller Tatkraft. Sie kennen alle Pflege­theorien und Krankheitsbilder, waren vom Kreißsaal bis zur Palliativstation eingesetzt. Die sind richtig fit und wollen was bewegen.

Sind sie dafür im richtigen Beruf?

An sich schon. Ich kenne kaum ­einen anderen, der so viele Möglichkeiten bietet. Pflegende versorgen Verbrennungsopfer, beraten Diabetespatien­ten, arbeiten mit Straffälligen in der forensischen Psychiatrie. Sie ­können sich weiterbilden, an der Fachhochschule oder Uni studieren, etwa Pflege­pädagogik, -management oder -forschung. Man muss nicht das ­Leben lang am Krankenbett arbeiten.

Wieso steigen dann trotzdem so viele Leute aus? Durchschnittlich bleibt eine Pflegekraft nur acht ­Jahre im Beruf.

Viele Vorgesetzte eröffnen den Nachwuchskräften keine Karrierewege. Die Kliniken und Heime engagieren die Absolvent:innen vom Fleck weg, weil überall Fachkräfte fehlen. Aber dann lassen sie sie jahrelang in der gleichen Abteilung sitzen. Niemand bemerkt, wenn die Leute unzufrieden werden, etwa, weil sie ihr Wissen kaum anwenden können und vieles nicht selbst entscheiden dürfen. Und sobald die passende Gelegenheit kommt – etwa die Geburt des ersten Kindes – sind sie weg. Laut einer Studie für ganz Europa denken viele Pflegende mehrmals pro Woche darüber nach, auszusteigen. Das ist alarmierend.

Liegt das nicht vor allem an der ­hohen Arbeitsbelastung?

Was Pflegende vor allem zermürbt, ist das dauerhafte Gefühl der Unzulänglichkeit: Sie können ihren Aufgaben nicht so nachkommen, wie es notwendig wäre und wie es ihrem eigenen ­moralischen Anspruch entspricht. In der Ausbildung lernen sie, wie wichtig es ist, den Patient:innen in Ruhe zuzuhören oder jemanden, der kaum trinkt, immer wieder ­kleine Schlücke anzubieten. Dafür haben sie aber schlicht keine Zeit. Unser Gesundheitswesen funktioniert nach wirtschaftlichen Vorgaben, private Klinikkonzerne wollen Gewinne erwirtschaften und sparen an der Pflege. Eine Pflegefachkraft im Krankenhaus versorgt heute durchschnittlich 13 Patient:innen. Viele sagen: Wir versuchen, irgendwie durchzukommen, und sind froh, wenn am Ende der Schicht nichts Schlimmes passiert ist.

Was nützt es da, wenn einige an die Uni gehen?

In den meisten anderen Ländern ist die Pflegeausbildung ein Studium. Deutschland hinkt hinterher. Bei uns sind weniger als zwei Prozent der ­Pflegekräfte akademisch geschult. Wünschenswert wären mindestens 20. Wir müssen reflektieren, was wir tun, und forschen: Welche Lagerung nach einem Herzinfarkt ist für welchen Menschen richtig? Wie organisieren wir uns, dass wir mit 13 Patient:innen nicht zusammenbrechen? Was können Hilfskräfte übernehmen, was Computer? Untersuchungen ­zeigen: In Einrichtungen, in denen mehr akademisch gebildete Pflegende arbeiten, sinkt die Sterberate.

In der Corona-Krise wurden Pflegekräfte "systemrelevant". Verbessern sich jetzt die Arbeitsbedingungen?

Die Politik tut wenig dazu. Sie hat den versprochenen Corona-Bonus immer noch nicht an alle ausgezahlt. Und lässt zu, dass infizierte Pflegekräfte arbeiten gehen (müssen). Diese Erfahrungen werden dafür sorgen, dass noch mehr Pflegekräfte aufhören. 2018 starteten mehrere Bundesminis­terien die "Konzertierte Aktion Pflege" mit dem Ziel, 13 000 Stellen in der ­Altenpflege zu schaffen, lediglich 3600 konnten bislang davon besetzt werden. Jetzt setzt man mehr auf angelernte Helfer:innen. Aber auch hier gilt: Woher nehmen und nicht stehlen?

Die rund 1,7 Millionen Pflegenden sind die größte Berufsgruppe im ­Gesundheitswesen. Warum machen sie selbst nicht mehr Druck?

Lediglich acht bis zehn Prozent der Pflegenden sind in einer Gewerkschaft oder in einem Berufsverband. ­Krankenpflege war lange eine die­nende, dem Arzt zuarbeitende Tätigkeit. Man ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden. Ein Riesenmissverständnis. Wenn sich die Pflege nicht politisch organisiert, dümpelt sie weiter in diesen zum Teil unzumut­baren Zuständen.

Als Angehörige oder Patientin spüre ich den Stress. Kann ich da was tun?

Am Ende eines Krankenhausaufenthaltes kriegen Sie meist einen Frage­bogen. Füllen Sie den ehrlich aus. Schreiben Sie hinein: Ich fühlte mich schlecht, wenn ich Pflegende um ­Hilfe bitten musste, weil ich sah, wie sehr sie sich abhetzen. Das akzeptiere ich nicht. Schreiben Sie Leserbriefe an die örtliche Zeitung. Machen Sie öffentlich, was Sie wahrnehmen.

Könnte ich zurzeit ehrenamtlich im Krankenhaus helfen?

In der Pandemie handhaben die Kliniken das unterschiedlich. Rufen Sie am besten direkt an und fragen. Ich kenne eine Frau, die auf einer Covid-Station aushilft. Sie hält sich im Flur bereit und bringt den Pflegekräften, die in voller Schutzmontur in den Krankenzimmern arbeiten, Handtücher oder Verbandmaterial an die Tür. In manchen Kliniken teilen Helfer:innen Essen aus. Langfristig helfen könnten Sie bei den Grünen Damen und Herren. Die besuchen ­Patient:innen, gehen mit ihnen spazieren, lesen vor, besorgen die Zeitung. All das, wofür Pflegende kaum Zeit ­haben.

Infobox

Neue Ausbildungswege

Krankenpflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege? Das waren bis vor kurzem drei unterschiedliche Ausbildungsgänge. Seit 2020 sind diese zusammengefasst zur generalistischen Ausbildung mit dem Abschluss: Pflegefachfrau/Pflegefachmann.

Diesen Abschluss kann man auch an der Hochschule erlangen, mit dem sogenannten grundständigen Pflegestudium. Die Absolvent:innen haben neben der Theorie viele Praxiseinsätze und können danach wie die anderen im Krankenhaus arbeiten. Nach sieben Semestern haben sie zusätzlich zur staatlichen Berufszulassung auch den akademischen Abschluss Bachelor of Science in Pflege. 

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Werte Damen und Herren, ein sehr eindrucksvoller Artikel. Es freut mich sehr, das (angehende) Pflegekräfte zu „Wort“kommen. Schildern wie Sie ihren „Job“ sehen, wie Sie mit viel Empathie und Sachverstand ihr anvertrauten Patienten positiv betreuen, begleiten.
Aus meiner Erfahrung als Hospiz-Begleiter Sterbender und diesen Nahestehenden stelle ich immer wieder fest,wie junge Pflegekräfte in den Hospizen ihren Dienst am Gast versehen. Herzensblut, verbunden mit einer hohen Wertschätzung.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Pütz
Ingolstadt