Kirchgang - Mit dem Pfarrer am Tresen
Kirchgang - Mit dem Pfarrer am Tresen
Privat
Mit dem Pfarrer am Tresen
Pfarrer Gérôme Kostropetsch geht dahin, wo die Leute sind: in den Getränkeshop.
05.10.2020

Getränkeshop Jäger, Lenzen, Samstag, 18 Uhr: Die Stadt Lenzen hat eine stattliche Kirche, Backsteingotik, dreischiffig. An manchen Sonntagen verlieren sich darin sieben, acht, manchmal 15 Gottesdienstbesucher. "Wenn die Menschen nicht zu mir kommen, gehe ich halt zu ihnen. Jesus ist auch zu denen gegangen, die ihn nicht gerufen haben", sagt Pfarrer Gérôme Kostropetsch, 29, und erfand einen neuen Treffpunkt: samstag­abends in Jägers Getränkehandel. Wenn die Lenzener sagen, sie gehen "in die Kirche", meinen sie seitdem Gudrun Jägers Kneipe.

Privat

Philipp Maußhardt

Philipp Maußhardt schreibt am liebsten über Themen, die er selbst erlebt hat. Das fing schon an als Volontär beim "Schwäbischen Tagblatt" in Tübingen, wo er über die Dörfer der Umgebung zog und nach Menschelndem witterte. Später leitete er das Lokalressort beim Kölner Stadtanzeiger und wurde vom Karnevalverein der Roten Funken zwangsrekrutiert als Oberleutnant. Nach seiner Flucht aus Köln verirrte er sich über verschiedenen Stationen (ZEIT, taz, Münchner Abendzeitung) als Chefreporter zu BUNTE und beteiligte sich elf Monate an der Jagd auf Prominente. Zusammen mit Kollegen der Journalisten-Agentur "Zeitenspiegel" gründete er 2005 die "Reportageschule" in Reutlingen, die er seither leitet. Für chrismon schreibt er immer wieder "Gottesdienstkritiken", eine Rubrik, die er als Chefreporter der Abendzeitung auch in München einführte und dafür neben manchem Lob auch viel Kopfschütteln erntete. Maußhardt ist Juror für zahlreiche deutsche Journalistenpreise und wurde selbst mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Als Pfarrer Kostropetsch kurz nach 18 Uhr den Raum betritt, sitzen ein Dutzend Frauen und Männer an zwei Tischen, alle haben ­eine Flasche Bier vor sich und begrüßen den ­Pfarrer durch einen Nebel von Tabakqualm mit einem "N’Abend, Pastor". Die Stimmung ist fröhlich, eine ältere Frau, Edith heißt sie, hat eingemachtes Sauerfleisch mitgebracht und verteilt es.

Sie sind alle beim Du, nur Kostropetsch trägt zusätzlich einen Titel: du, Pastor. Man habe sich anfangs über ihn gewundert, was will der hier. "Aber ich komme ja nicht zum Missionieren her. Ich zeige nur: Mich gibt es. Wenn jemand das Gespräch mit mir sucht, bin ich da." Dass Jürgens Mutter nach einem Schlaganfall im Koma liegt, hat er hier er­fahren und fast beiläufig sagt er zu Jürgen: "Wenn du darüber reden willst, ruf mich an." Die "Kirche" ist für den Pfarrer der Kontakthof zur richtigen Kirche.

Gott ist überall

Jemand hat dem Pastor einen Kümmerling ausgegeben. "Dankeschön und Prost", ruft er und lacht. An diesem Abend geht es viel um Alltägliches, manchmal fragen die Lenzener aber auch nach kirchlichen Themen: Warum gibt es zwei Feiertage an Weihnachten, und einer wollte wissen, ob ihn Kostropetsch kirchlich trauen würde, obwohl er und seine Braut nicht Mitglied der Kirche sind. Da habe er Nein gesagt, "aber wenn mich jemand um eine Trauerrede bittet, würde ich es machen, auch wenn der Verstorbene nicht in der ­Kirche war". Kürzlich hielt Kostropetsch ­einen Gottesdienst in einem der Nachbar­dörfer. Eine einzige ältere Frau war ge­kommen. Sie beteten zusammen, er hielt die Predigt. "Zum Schluss hat sie zu mir gesagt, sie habe völlig vergessen, dass sie ganz ­alleine hier saß", erzählt der Pfarrer.

Gott ist für ihn überall. In der Kirche und eben auch in Jägers Getränkeshop. Wenn an einem Sonntag in der richtigen Kirche von Lenzen dann ab und zu ein Gottesdienst­besucher mehr erscheint, ist nicht schwer zu erraten, wo Pfarrer Kostropetsch ihn "gefischt" hat.

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