Seit dem Frühjahr beschäftigen sich die beiden großen Kirchen mit einer Prognose für ihre Zukunft. Sie haben sie selbst beim Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg in Auftrag gegeben. Bis 2060 werden die Kirchen demnach etwa die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren und sich auch nur noch die Hälfte vom Heutigen leisten können. Jetzt ahnen wir, wie sehr wir uns neu orientieren müssen.
Irmgard Schwaetzer
Niemand weiß, was in 40 Jahren wirklich sein wird, aber die Gründe für den Mitgliederrückgang werden klarer. An der demografischen Entwicklung, dass mehr Menschen sterben als geboren werden, können wir nicht viel ändern. Aber über die Hälfte des vorausgesagten Mitgliederrückgangs ist darauf zurückzuführen, dass vor allem junge Leute austreten und weniger Eltern ihre Kinder taufen lassen. Wir haben offenbar das Gespräch mit der Jugend und auch mit vielen Erwachsenen verlernt, die meinen, ohne Gott und vor allem ohne die Kirche auskommen zu können.
Wenn das Geld weniger wird, müssen wir uns von Routinen und Doppelstrukturen verabschieden. Das tut weh, denn es erinnert uns an bessere Zeiten. Doch als "Kirche mit leichtem Gepäck" unterwegs zu sein, wie es die Rheinische Landeskirche nennt, ist auch eine Chance. Bei den Umbrüchen sollten wir uns davon leiten lassen, wie wir andere mit der Botschaft von Gottes Liebe erreichen und berühren. Muss es immer der Gottesdienst am Sonntagvormittag sein? Das ist die traditionelle Form, um auf Gottes Wort zu hören und miteinander ins Gespräch zu kommen. Damit erreichen wir aber immer weniger Menschen. Etliche Gemeinden haben mit Andachten zum Wochenausklang oder Wochenbeginn freitag- oder sonntagabends gute Erfahrungen gemacht, oder mit Gottesdiensten zum Schuljahresbeginn.
Wer gehört zur Gemeinde?
Andere feiern Abendmahl auf der Almhütte oder im Café, mit Chor oder Band. Mit der Vielfalt wachsen auch die Möglichkeiten, Gottes Wort neu ins Gespräch zu bringen. Jede Gemeinde sollte offen diskutieren, welche Form von Gottesdienst die Menschen als geistlichen Aufbruch erleben und welche nicht.
Bei der Friedlichen Revolution spielte die Kirche eine zentrale Rolle, Pfarrerinnen und Pfarrer waren gefragt wie nie. Heute sind die Christen in weiten Teilen Ostdeutschlands eine Minderheit. Dort drängt sich längst die Frage auf: Wer gehört zu einer Kirchengemeinde dazu? Nur wer Kirchensteuer zahlt? Oder auch diejenigen, die nicht getauft sind und trotzdem ehrenamtlich mitarbeiten? Ich finde, dass der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums nicht an den Grenzen der Kirchenmitgliedschaft endet.
Was bewegt Frauen und Männer in der Phase von Ausbildung, Berufseinstieg und Familiengründung? Die Kirche hatte diese Altersgruppe in den vergangenen Jahren etwas aus den Augen verloren, aber mittlerweile laden etliche Gemeinden die jungen Leute dezidiert ein, in "Jugendkirchen" selbst zu bestimmen, was gemacht wird, und uns Älteren zu sagen, was sie erwarten. Dabei spielt natürlich die digitale Vernetzung eine große Rolle.
Es wird sich noch viel mehr ändern müssen
Es ist eine Frage der geistlichen Haltung, ob man sich schwerer oder leichter von Routinen verabschiedet. Etwas loszulassen, was seine Bedeutung verloren hat, kann befreiend wirken. In etlichen Gemeinden und Landeskirchen ist schon Aufbruch zu spüren, aber es wird sich noch viel mehr ändern müssen, bis wir selbstverständlicher auf Menschen zugehen und auch lernen, mehr zuzuhören, als selbst zu reden. Wenn sie spüren, dass sich die Kirche wirklich für sie interessiert, dann wird es für viele vielleicht auch eine "Frage der Ehre" sein, sich freiwillig zu beteiligen, auch finanziell.
Wer gehört zur Gemeinde?
Ich war lange Zeit Mesnerin südlich von München und stets bemüht alle herzlich zu begrüßen, weil das Gotteshaus per se für alle offen ist: Gemeindeglieder, Gäste, Gläubige anderer Konfessionen und natürlich auch Atheisten, die Ruhe oder Kultur suchen.
Wir hatten auch einen "Heiratstourismus", na und ? Viele haben nach der Konfirmation/ Firmung mit der Kirche nichts mehr am Hut und der 1. Schritt ist eben die eigene Hochzeit. Und da sollen sie abgewiesen werden?
Ich komme allerdings aus Frankreich, wo es keine Kirchensteuer gibt, und daher auch keine "Mitgliedschaft".
L e s e r b r i e f zu „Wir müssen besser zuhören“
Sehr geehrte Damen und Herren!
Dass in einem von christlicher Kultur geprägten Land immer mehr Mitglieder der Kirche fernbleiben, ist eine traurige, wenn nicht besorgniserregende Nachricht, auch der Kinder wegen.
Nach meinen langjährigen Erfahrungen mit Grundschülern im Religionsunterricht haben Kinder in der Regel ein originäres Bedürfnis nach Religion, Glauben und Kirche. Dies gibt ihnen Halt, Orientierung und Sicherheit in einer ihnen zunehmend komplizierter erscheinenden Welt.
Zu den Hauptgründen für die Abkehr von der Kirche zählen sicherlich fehlende Vorbilder und Traditionen in der Familie, Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit, Lust auf Events statt Konzentration auf Stille und Besinnung im Gottesdienst, Wohlstand und vielleicht auch das Verhalten der Geistlichen. Wenn es ihnen wieder gelingt, mehr Seelsorger als Verwaltungsmenschen zu sein, auf die Menschen zuzugehen, ihnen „besser zuzuhören“, sie in Freud und Leid zu begleiten und sie erfahren zu lassen, dass Religion, Glauben und Kirche das Leben bereichern und nicht einengen, wird so mancher den Weg zur Kirche wiederfinden.
Dies sollte nicht erst in schlechten Zeiten geschehen etwa nach dem Motto „Not lehrt Beten“.
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Gottbrath
Nicht nur meinen ohne Gott und Kirche auskommen zu können
Ich hadere mit dem Satz "Wir haben offenbar das Gespräch mit der Jugend und auch mit vielen Erwachsenen verlernt, die meinen, ohne Gott und vor allem ohne die Kirche auskommen zu können." Das neuralgische Wort ist hier "meinen" - und zwar aus zwei Gründen: erstens gibt es Menschen, die ohne Gott auskommen _müssen_, weil sie nicht glauben _können_. Diese Menschen sind sich sehr bewusst, was ihnen abgeht (Trost z.B.), und haben es sich nicht ausgesucht ohne Gott auszukommen.
Zweitens steckt im "meinen", dass sie in Wahrheit nicht ohne Gott auskommen können - sie wissen es nur nicht. Das finde ich etwas paternalistisch. Und ich glaube, dass gerade diese Herangehensweise viele Menschen abschreckt und auf Distanz gehen lässt. Eigentlich ist Ihnen das auch klar, denn es widerspricht klar der Aufforderung im letzten Absatz "mehr zuzuhören" - womit sich zeigt, wie nötig diese Aufforderung ist.