Anne B., Jahrgang 1957:
Ich wohne in einem sehr beliebten Szene- und Ausgehviertel in Frankfurt am Main auf 70 Quadratmetern – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Wohnküche und ein winziges, aber helles Zimmer von sechs Quadratmetern. Natürlich ist die Wohnung teuer. Deshalb vermiete ich das kleine Zimmer unter der Woche an Pendler – wochenends brauche ich es oft selbst, als Gästezimmer. Es gibt hier viele Leute, die ganz woanders wohnen und zwei, drei Tage die Woche in Frankfurt arbeiten. Bankerinnen wohnten hier schon, ein Wirtschaftsredakteur, eine Anwaltsassistentin . . . Alle harte Arbeiter, die morgens früh aus dem Haus gehen und abends um acht erst wiederkommen. Manchmal sehen wir uns kaum, ich bin auch viel unterwegs.
Ich brauche niemanden, der mich bespaßt
Ich freue mich, wenn sich ein Schlüssel in der Wohnungstür dreht, aber ich brauche niemanden, der mich bespaßt, der die ganze Zeit mit mir redet. Menschliche Ansprache habe ich wirklich zur Genüge – ich habe viele Freunde. Dass man einen Wein aufmacht und den ganzen Abend miteinander verbringt, hat sich mit den Mitbewohnern trotzdem ab und zu ergeben. Meistens aber isst man zusammen Abendbrot, und dann heißt es irgendwann: Ich will noch einen Film gucken oder meine Kinder anrufen oder noch ein bisschen arbeiten – und jeder geht in seinen Bereich.
Beim Teilen bin ich relativ grenzenlos. Jeder, der da wohnt, kann alles essen und trinken, was rumsteht. Wichtig ist mir, dass es einigermaßen ordentlich ist. Das diszipliniert mich ja auch. Vielleicht würde ich ein bisschen verkommen, wenn ich alleine wohnen würde.
Und auf der Gästematratze im Wohnzimmer der Flüchtling
Als 2015 die syrischen Flüchtlinge kamen, überlegte ich, ob nicht noch eine Frau mit Kind Platz hätte – sie könnte doch im Wohnzimmer schlafen. Mein damaliger Mitbewohner fand das super: "So kann auch ich was für Flüchtlinge tun!" Die Stadt schaffte es aber nicht, mir jemanden zu vermitteln, stattdessen schickte mir eine Initiative einen Migranten aus Ghana. Anfangs hatte ich Sorge, dass er all seine Freunde mitbringt, dass mir das entgleitet. Aber das hat er nicht gemacht. Er ist sehr feinfühlig. Fast ein Jahr schlief er auf der Gästematratze im Wohnzimmer, dann fand er eine unbefristete Stelle und eine eigene Wohnung.
Damals merkte ich: Eigentlich brauche ich mein Wohnzimmer gar nicht. Küche und Schlafzimmer würden mir völlig reichen. Ich kann auch auf dem Bett lesen, arbeiten oder Filme gucken. So viel Wohnraum, wie viele von uns haben, braucht man objektiv nicht. Ich verstehe nicht, warum es nicht mehr Leute machen so wie ich. Leute in großen Wohnungen. Ob die wirklich alle gern alleine wohnen?
Ich jedenfalls nicht. Wir waren zu Hause fünf Kinder, ich teilte mir bis zum Abitur das Zimmer mit meiner Schwester; als Studentin wohnte ich in Wohngemeinschaften, dann mit meinem Mann zusammen. Ich fahre gern mit anderen Leuten in Urlaub. Auch als mein Mann noch lebte, machten wir das so. Das ist mein Modell, Familie zu bilden.
Als ich jetzt einen schweren Fahrradunfall hatte, wollte mein früherer Mitbewohner aus Ghana jeden Tag vorbeikommen. Um Himmels willen, sagte ich, das tust du nicht! Okay, sagte er, dann rufe ich jeden Morgen an und frage, ob ich kommen soll. Er hat mich im Rollstuhl zu Ärzten gerollert, ist zur Apotheke gegangen, einkaufen . . . Und als ich ein bisschen fertig im Krankenhausbett sitze, kommen auf einmal die zwei kleinen Kinder meiner früheren Mitbewohnerin aus Berlin, die jetzt ganz nach Frankfurt gezogen ist, herein und krabbeln auf meinem Bett herum – herrlich, so werde ich gesund!
Protokoll: Christine Holch