Kontaktabbruch in Familien
"Was ist denn bei euch los?"
Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann erklärt, was in Menschen vorgeht, die von Mutter und Vater nichts mehr wissen wollen
"Was ist denn bei euch los?"
Claudia Haarmann ist Psychotherapeutin und Buchautorin
Thekla Ehling
Aktualisiert am 19.10.2024
4Min

chrismon: Heute brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern häufiger ab als früher, schreiben Sie in Ihrem Buch. Woran liegt das?

Claudia Haarmann: Die jungen Erwachsenen sprechen sehr viel mehr über ihre Gefühle, tauschen sich mit Freunden aus, machen Therapien. Dabei reden sie auch sehr offen über ihre Elternhäuser, nehmen das, was schiefgelaufen ist, nicht als gegeben hin. Für manche ist die Familien­situation so problematisch, dass sie dann die radikale Lösung wählen und den Kontakt beenden.

Kann die größere Offenheit nicht auch eine Chance sein, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, Konflikte zu besprechen?

Das setzt aber voraus, dass die Gene­ration der Eltern darauf adäquat eingehen kann. Aber sie sind es oft nicht gewohnt, sich mit Gefühlen und seelischem Schmerz auseinanderzusetzen. Vor allem die Eltern, die als Kinder Kriegserfahrungen gemacht haben, mussten funktionieren und ihre Gefühle zurückstellen. Wenn dann heute die erwachsenen Kinder kommen und sagen: "Ich habe mich nicht geliebt gefühlt und war einsam in der Familie", fühlen sich die Eltern überfordert und womöglich an ihre eigenen Kindheiten erinnert, da wird an Verdrängtem gerührt. Deshalb gehen die Eltern solchen Gesprächen aus dem Weg oder beschwichtigen: "Ja, aber... ich war doch immer für dich da." Genau das haben die Kinder aber ganz anders erlebt.

Lesen Sie hier: Kriegskinder und Kriegsenkel. Wie soll man umgehen mit den alten Eltern?

Die Wurzeln für einen Kontaktabbruch reichen also immer weit in die Vergangenheit?

Ja. Der Kontaktabbruch ist nur der Endpunkt einer langen Entwicklung. Lieblosigkeit und emotionale Distanz im Elternhaus sind häufig die Ur­sachen, warum sich Kinder von ihren Eltern lossagen.

Müssen sich die Eltern also im Nachhinein schuldig fühlen?

Bestimmt nicht. Es geht hier ja nicht um Schuld, sondern um Unvermögen. Die Eltern haben gegeben, was ihnen möglich war. Oft haben sie ihre ­ganze Energie da reingesteckt, für ihre ­Kinder ein komfortables Zuhause aufzubauen. Geld wird dann interessanterweise oftmals zu einem Synonym für Liebe: Ich will dir etwas Gutes tun. Man drückt mit Geld etwas aus, das man körperlich oder mit Worten so schwer vermitteln kann.

Heute ist viel von den Helikoptereltern die Rede, die ihre Kinder mit Fürsorge überschütten. Kann dieses Verhalten auch dazu führen, dass Kinder die Tür endgültig zuschlagen?

Auf jeden Fall. Das betrifft vor allem die jüngeren Kontaktabbrecher, die zwischen 18 und 30 Jahre alt sind. Sie haben das Gefühl, ihre Eltern hätten am liebsten eine Überwachungs-App, die immer anzeigt, wo ihre Kinder gerade sind. Unter Umständen haben diese Eltern als Kinder einen Mangel an Liebe erlebt. Und jetzt wollen sie es anders machen als ihre Eltern, und sie überschütten die eigenen Kinder mit zu viel an Aufmerksamkeit und Liebe. Aus dieser Enge lösen sich die Kinder dann.

Lesen Sie hier in unserer Kolumne Väterzeit: Wie vermittle ich meinem Kind das richtige Gefühl von Sicherheit?

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