chrismon: Heute brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern häufiger ab als früher, schreiben Sie in Ihrem Buch. Woran liegt das?
Claudia Haarmann: Die jungen Erwachsenen sprechen sehr viel mehr über ihre Gefühle, tauschen sich mit Freunden aus, machen Therapien. Dabei reden sie auch sehr offen über ihre Elternhäuser, nehmen das, was schiefgelaufen ist, nicht als gegeben hin. Für manche ist die Familiensituation so problematisch, dass sie dann die radikale Lösung wählen und den Kontakt beenden.
Kann die größere Offenheit nicht auch eine Chance sein, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, Konflikte zu besprechen?
Das setzt aber voraus, dass die Generation der Eltern darauf adäquat eingehen kann. Aber sie sind es oft nicht gewohnt, sich mit Gefühlen und seelischem Schmerz auseinanderzusetzen. Vor allem die Eltern, die als Kinder Kriegserfahrungen gemacht haben, mussten funktionieren und ihre Gefühle zurückstellen. Wenn dann heute die erwachsenen Kinder kommen und sagen: "Ich habe mich nicht geliebt gefühlt und war einsam in der Familie", fühlen sich die Eltern überfordert und womöglich an ihre eigenen Kindheiten erinnert, da wird an Verdrängtem gerührt. Deshalb gehen die Eltern solchen Gesprächen aus dem Weg oder beschwichtigen: "Ja, aber... ich war doch immer für dich da." Genau das haben die Kinder aber ganz anders erlebt.
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