"Nicht strafbar" – also erlaubt?
Sich beleidigen, geht gar nicht. Auch nicht in der Familie
Lena Uphoff
27.02.2019

ie jeden Morgen blättere ich beim Frühstück durch die Tageszeitung. Wenig Aufregendes, denke ich. Doch dann fällt mein Blick auf eine kleine Überschrift: "Beleidigungen im Familienkreis erlaubt". Ernst oder Satire? Das muss ich lesen.

Lena Uphoff

Arnd Brummer

Arnd Brummer, geboren 1957, ist Journalist und Autor. Bis März 2022 war er geschäftsführender Herausgeber von chrismon. Von der ersten Ausgabe des Magazins im Oktober 2000 bis Ende 2017 wirkte er als Chefredakteur. Nach einem Tageszeitungsvolontariat beim "Schwarzwälder Boten" arbeitete er als Kultur- und Politikredakteur bei mehreren Tageszeitungen, leitete eine Radiostation und berichtete aus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn als Korrespondent über Außen-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik. Seit seinem Wechsel in die Chefredaktion des "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts", dem Vorgänger von chrismon im Jahr 1991, widmet er sich zudem grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis Kirche-Staat sowie Kirche-Gesellschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt kulturwissenschaftlichen und religionssoziologischen Themen. Brummer schrieb ein Buch über die Reform des Gesundheitswesens und ist Herausgeber mehrerer Bücher zur Reform von Kirche und Diakonie.

Die Story: Nach einem heftigen Ehestreit schickte die Frau ihrer Mutter ein Handyvideo, auf dem ihr Mann zu sehen ist, wie er seinen Sohn am Genick fasst und schubst, damit er schneller geht. Die Schwiegermutter erstattete daraufhin eine Strafanzeige gegen den Mann. Und sie versandte eine Whatsapp-Nachricht mit dem Video an enge Verwandte. Titel: ­"Protokoll der Misshandlungen".
Als der Schwiegersohn davon erfuhr, zog er seinerseits vor das Landgericht. Ziel: Die Frau solle die zahlreichen "unzutreffenden" Aussagen in dem Whatsapp-Protokoll nicht weiter behaupten und verbreiten. Die Klage wurde abgewiesen. Und seine Beschwerde beim Oberlandesgericht blieb ebenfalls erfolglos. Juristische Begründung: Die Äußerungen der Schwiegermutter seien innerhalb der Familie, also in einer "beleidigungsfreien Sphäre" gefallen. Unter engsten Verwandten müsse man sich frei aussprechen können. Was gegenüber ­Außenstehenden oder in der Öffentlichkeit wegen seines ­"ehrverletzenden Gehalts eigentlich nicht schutzwürdig" wäre, sei deshalb dort straffrei. So weit so gut.

Wo, wenn nicht in der Familie, lernen Kinder, wie man miteinander umgeht?

Je länger ich über die Sache nachdachte, desto mehr ärgerte mich die Überschrift des Artikels. Ich musste den 
Kollegen immerhin konstatieren, dass sie mich zur Lektüre animiert hatten. Dass sie als "erlaubt" bezeichneten, was die Juristen lediglich als "nicht strafbar" beurteilt hatten, ärgerte mich.
Ja, in Familien wird bisweilen so derb kommuniziert, dass es einem die Schamröte ins Gesicht treiben würde, wenn Außenstehende davon erführen. Durch meinen Kopf geisterten Erinnerungen. Ich saß als Junge mit am Tisch, als mein Großonkel, ein Handwerksmeister, verbal auf seinen Sohn und Gesellen eindrosch. "Der Bub ist ein saudummes und stinkfaules A…loch! Aber fressen tut er am liebsten teuerstes Rinderfilet, das ihm seine blöde Mutti extra kauft und kocht, weil er doch so viel schafft!" 
Der Gemeinte schaute still auf seinen Teller. Dann hob er den Kopf und 
bellte zurück: "Eine solche Drecksau 
wie du hat morgens noch so viel Schnaps im Blut, dass sie nicht mal 
zwei Bretter ordentlich zusammenschrauben kann. Also halt die Klappe 
und füll’ sie weiter mit teurem Cognac."

Wenig später belauschte ich, wie ­meine Großtante in der Küche zuerst mit ihrem Mann und dann mit ihrem Sohn diskutierte. Tenor: "Ihr könnt euch kritisieren und ihr dürft euch auch beschimpfen. Aber hört auf, ­einander mit so schrecklichen Worten zu beleidigen. Das gehört sich nicht! Und denkt doch auch mal an euren kleinen Neffen, der das ­alles mit anhören musste! Der muss ja ­glauben, dass wir eine Familie ­ohne Respekt und Anstand sind." Vater und Sohn kamen mit demselben Gesichtsausdruck aus der Küche: mit Schmollmund und abgedrehten Augen. ­Immerhin brummte mir der Großonkel (kein "Brummer", anderer Name!) zu: "Vergiss den Quatsch. Mir ist der Gaul durchgegangen."

Wenn Familien von der Justiz als "ehrschutzfreier Raum" bezeichnet 
werden, macht das sozial und psycho­logisch durchaus Sinn. Im Sinne von Ethik und Moral ist ­diese Einschätzung verfehlt. Wo, wenn nicht im familiären Gefüge, kann Nach­wachsenden glaubwürdig vermittelt werden, wie man miteinander anständig umgeht? So danke ich meiner Großtante auch nach Jahrzehnten, dass sie Beleidigungen unter­sagte, auch wenn sie strafrechtlich nicht verfolgt werden können. "Nicht erlaubt" sind in diesem Sinne auch Whatsapps.

Wo, wenn nicht in der ­Familie, kann man 
Kindern vermitteln, wie man miteinander anständig umgeht?
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