Ihre Seele haben schon viele Leute verkauft. Ihre Haut zu Markte getragen auch. Aber ernst gemacht und die rhetorische Figur beim Wort genommen hat erst Tim Steiner. Der 31-jährige Züricher hat sich im vergangenen Jahr 35 Stunden lang von dem belgischen Konzeptkünstler Wim Delvoye den Rücken mit Muttergottes und Totenschädel tätowieren lassen. Auf dem Bild sieht man eine new-agig aufgepeppte Erlösung vom Tod durch Maria, die den Fluch der Eva in Heil verkehrt. Steiner ist das Thema von Tod und Ewigkeit buchstäblich unter die Haut gegangen. Die hat er über eine Züricher Galerie an Rik Reinking, einen 31-jährigen Sammler aus Hamburg, für 150 000 Euro verkauft. Dessen ursprünglicher Wunsch nach Anonymität hatte Gründe: Szenekundige könnten sich erinnert fühlen an die tätowierten Köpfe neuseeländischer Maorikrieger in europäischen Kolonialmuseen.
Steiner verpflichtet sich, das Kunstwerk auf seinem Rücken während drei bis vier Wochen pro Jahr auszustellen. Nach seinem Tod werden Chirurgen die Rückenhaut ablösen, damit sie gegerbt werden kann. Sie wird dann in die Sammlung des Käufers integriert. Der Sammler, der sich, gleichaltrig, in einem Wettrennen gegen die Zeit um diese Haut befindet, kann nur beten, dass Steiner seine Haut weder durch übermäßige Sonneneinstrahlung noch durch ein unmäßiges Zu- und Abnehmen strapaziert. Und dass er sich nicht, wie so viele Tätowierte irgendwann seines Tattoos überdrüssig, über den Vertrag hinwegsetzt und das Bild schlicht weglasern lässt. Der natürliche Alterungsprozess wird Steiners Kunstwerk auf jeden Fall übel mitspielen. Es wird weniger von der Unsterblichkeit der Kunst als von der Hinfälligkeit alles Irdischen zeugen. Nichts ist so alt wie ein Tattoo von gestern: Vielleicht triumphiert in der verkehrten Ikonographie dieses Bildes schon jetzt der Totenschädel über Madonna.
Tattoos sind zu einem modischen Accessoire geworden.
Tattoos haben in den letzten 20 Jahren in Europa und Amerika einen beispiellosen Siegeszug angetreten. Sie prangen an Schulter, Oberarm, Unterschenkel und als "Arschgeweih" auf den Hüften. Zusammen mit anderen dauerhaften Einprägungen in den Körper wie das Piercing oder Branding sind sie vor allem deshalb zu einem modischen Accessoire geworden, weil ihnen ein Hauch des Verruchten anhängt. Aber der Höhepunkt der Tattoobegeisterung, vor etwa fünf Jahren zu beobachten, ist überschritten. Vor zwei Jahren diagnostizierte das Meinungsforschungsinstitut Allensbach die Trendwende: Tattoos wie auch Piercings sind out. Ästhetische Chirurgen sehen sich inzwischen mit einer wachsenden Zahl von Patienten konfrontiert, die ihre Tattoos wieder loswerden wollen. Die Zahl der Laserbehandlungen hat sich in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt. Tattoos, die lebenslanges Bekenntnis sein sollten, werden so lästig, dass man bereitwillig eine kostspielige und zeitintensive Laserbehandlung über sich ergehen lässt. Schmerzphobikern wie mir wird schon bei dem Gedanken ans gedoppelte Leiden ganz schlecht. Haben die Körperzeichnungen so schnell ihre Bedeutung verloren? Und welche Bedeutung?
In ihrer Ursprungsgegend, auf den pazifischen Inseln Tahiti, Samoa, Neuseeland, ist die Tätowierung an Initiationsriten gebunden. Tattoos auf Bauch und Hüften fruchtbar gewordener Mädchen sollten die Männer anziehen. Die Körper der Krieger wurden bei den Maoris zudem tätowiert, um so den Gegner abzuschrecken. Die westlichen Entdecker und Eroberer sahen in den Tattoos hingegen den Inbegriff des Primitiven: Zivilisierte Völker zeichneten ihren Körper nicht unauslöschlich im Fleische.
Tätowierung kennzeichneten bestimmte Bevölkerungsgruppen
In diesem Urteil kehrte nur ein Verdikt aus der Zeit des frühen Christentums wieder. Die antiken Kulturen nämlich, Wiege der europäischen Zivilisation, kennzeichneten durch Brandzeichen oder Tätowierung - also ganz wörtlich: durch Stigmatisierung, durch Körperinschriften - bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Sklaven, Schauspieler, Soldaten, Gladiatoren oder Prostituierte. Die Zeichen im Fleisch machten sie zu infamen Personen; das heißt, sie schlossen sie aus der Gemeinschaft aus.
Das spätantike Christentum hatte diese Praxis verworfen. An die Stelle der äußeren, sichtbaren Markierung hatte es eine wirksamere, unauslöschliche, innere gesetzt. Sie sollte so effektiv sein, dass sie alle äußeren Markierungen überschrieb. Die "Sklaven Gottes" trugen anders als die Sklaven eines weltlichen Herrn keine äußerlichen Zeichen im Fleisch, sondern waren mit dem character crucis (dem "Zeichen des Kreuzes") durch die Taufe gezeichnet. Gregor von Nazianz, einer der kappadozischen Kirchenväter des vierten Jahrhunderts, beschreibt die Taufe als eine Schrift auf den Tafeln der Seele, die den so Gezeichneten für immer wirksam verändert. Diese innere Schrift setzten die frühen Christen gegen die äußere im Fleisch.
Dieser Widerspruch von inneren und äußeren Zeichen erledigte sich mit der ersten Stigmatisierung des Hochmittelalters, der des Franz von Assisi im Jahre 1224: Er trug die Wundmale des Gekreuzigten am eigenen Körper. Sie markieren die raffinierteste Dialektik von außen und innen. Im süßen, brennenden Liebesschmerz vergeht das alte Ich des Heiligen, um einem anderen Platz zu machen. Diese Körperzeichen sind bereits Vorschein des verklärten Körpers.
Die zuerst von der Kirche und später von den säkularisierten Mächten verpönte Praxis des Körperzeichnens, das durch den Prozess der Zivilisation endgültig überwunden werden sollte, hat sich im "zivilisierten Westen" nicht ganz verloren. Das Einprägen von Liebeswunden in den Körper erscheint allerdings jetzt als masochistische Perversion der Liebessklaven. "Die Geschichte der O" erzählt von der Brandmarkung der Heldin durch ihren Liebesherrn. Die Initialien ihres Herrn werden ihr unter unsäglichem Schmerz auf die Hüften gebrannt; die Heldinnen Elsa Morantes bitten ihre Geliebten, sie im Fleisch als ihre Sache zu zeichnen. Was der Geliebte prompt mit dem glühenden Lockenwickler ausführt und eine unauslöschliche Narbe hinterlässt. Liebeszeichen sind viele Tattoos bis heute, auch die flammenden Herzen sind inzwischen wieder in.
Ende der neunziger Jahre, nach einem Jahrzehnt munteren Tätowierens, hatte sich der Bilderkanon verändert. Lagen zuvor die exotischen Tribaltattoos im Trend, kunstvoll gestaltete Ornamente, kehrten nun traditionelle Motive zurück: Sterne, Schwalbenflügel, Anker, Steuerrad und eben die Herzen. Ein Liebestattoo erfüllt gleich zwei Zwecke: Es dokumentiert die brennende Leidenschaft und es beschwört sie zugleich. Wenn die Liebe bis ins Herz dringt, dann mag sie erst recht die Haut durchstechen.
Die Gruppen, die die exotische Praxis des Tätowierens seit der Zeit der Entdecker und in der Kolonialzeit aus fernen Ländern nach Hause gebracht hatten, markierten sich noch als andere. Sie marginalisierten sich bewusst. Ganz buchstäblich waren sie meistens an den Rand der Gesellschaft gedrängt: Kriminelle, die damals oft nicht ins Gefängnis kamen, sondern nach Australien oder Neuseeland exiliert wurden, gefallene Mädchen, Seeleute, die sowieso eine Gesellschaft mit eigenen Gesetzen bildeten. Obwohl sie dasselbe taten wie die Einheimischen, bedeutete ihr Tätowieren etwas radikal anderes: Sie stellten gerade die Deutungshoheit der Gesellschaft infrage.
Ein Tabubruch ist nicht auf Dauer möglich - was die Chirurgen freut
Aus dem exotisch-anrüchigen Abseits ist das Tattoo ins Zentrum der westlichen Kulturen gerückt. Seinen Sexappeal zieht es aus dem Tabu, mit dem unsere Kultur Markierungen des Fleisches verworfen hat. Aber im Mainstream zu sein bekommt Tabus nicht. Auch sind Tabubrüche schlecht auf Dauer zu stellen. Und so verdienen mittlerweile die Chirurgen mit dem Weglasern von Tattoos vermutlich mehr als die Tätowierer mit dem Stechen.
Vielleicht wird genau deshalb auch Tim Steiner eines Tages vertragsbrüchig, weil er keine Lust mehr hat, als der - vom Material her denkbar ungeeignete - Träger eines Kunstwerks durch die Welt zu laufen. Vielleicht ist dann auch der Sammler gereift und an fetischistischen Tabubrüchen weniger interessiert.