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Kain ist schon bei seiner Geburt ein gemachter Mann. Der Erstgeborene und Erbe der Menschheit. Sohn von Adam und Eva. Seine Mutter jubelt bei seiner Geburt: "Ich habe einen Mann gemacht mit Gottes Hilfe!" Die Geburt des Zweitgeborenen ist weniger aufsehenerregend: Abel heißt übersetzt "Hauch". Die Brüder stehen für die gesamte Menschheit: der gemachte Mann, Ackerbauer und Grundbesitzer – und der "Hauch". Kain als Typus des Erfolgsmenschen und Abel stellvertretend für Milliarden "Nichtse", Menschen, die nichts zu sagen haben, die nicht über Vermögen und Immobilien verfügen. Die auf einem Boden leben, der nicht ihnen gehört.
Dirk Ahrens
Beide opfern Gott von den Früchten ihrer Arbeit. Und Gott sieht nur das Opfer Abels gnädig an. Warum? Die Geschichte von Kain und Abel gibt dafür keine Erklärung. Aber überall in der Bibel findet man Hinweise darauf, dass Gottes Liebe und Zuwendung eher den kleinen Leuten gehört, den Nichtsen, den Armen, den Abels. Dennoch: Den Grund für Gottes Wahl kennen wir nicht.
Gott ist frei und keinerlei Mechanismen unterworfen, die ihn zwingen könnten, unsere Opfer und unsere religiösen Bemühungen gnädig anzusehen.
Für Kain, den gemachten Mann, ist das unerträglich. Vielleicht denkt er, dass er ein Recht auf Gottes Gnade habe. Ganz sicher aber ist es für ihn eine narzisstische Kränkung oder Demütigung, dass so ein Hauch, ein Nichts, ihm vorgezogen wird. Kain ergrimmt und senkt finster seinen Blick. Mit dieser Haltung kann man in manchen Ländern Präsident werden: einer, der sich durchsetzt und sich nicht alles bieten lässt. Aber Gottes Recht ist nicht das Recht des Stärkeren.
"Wer das Recht für den eigenen Vorteil zerstört, muss fürchten, dass sich das Recht des Stärkeren gegen ihn wendet"
Gott sieht auch Kains Not. Er bleibt ihm zugewandt und ermutigt ihn. Er traut Kain zu, Herr über die Sünde zu bleiben. Wenn der gemachte Mann schon herrschen will und muss, dann zuallererst über die Sünde, die vor seiner Tür lauert. Aber an dem Punkt ist Kain schwach. Diese Kränkung, dass ein Hauch zwischen ihm und Gottes Gnade stand, durfte nicht ungesühnt bleiben: "Kain zuerst!" Neid und Missgunst überwinden ihn und machen ihn zum Mörder.
Gut zu wissen, dass sich auch die Mächtigen vor Gott verantworten müssen: "Wo ist dein Bruder?" Kain versucht es mit zynischem Spott, aber Gott kann er nicht entgehen: "Was hast du getan?" Die dumme Rechnung des Kain geht nicht auf: Statt Gnade erntet er Fluch. Kain erkennt, dass sich das Recht des Stärkeren, jenes Recht, dem er eben noch zur Entfaltung verholfen hatte, gegen ihn wenden könnte: "Wer mich findet, wird mich totschlagen!" Das Gesetz des Dschungels war sein Gesetz, als er sich noch mächtig fühlte. Nun aber zittert er vor Angst.
Tyrannen, die Recht und Ordnung für den eigenen Vorteil zerstören, müssen fürchten, dass sich das Recht des Stärkeren gegen sie wendet: Wer beschützt noch ihr eigenes Leben, wenn erst die Institutionen des Rechts zerstört sind? Deshalb können sie nicht aufhören zu herrschen und müssen ihre Herrschaftszeit immer verlängern.
Um den drohenden Kreislauf von Willkür und Tod aufzuhalten, muss Recht gesprochen werden, wo sonst Rache walten würde. Gott straft den Kain für sein Verbrechen, aber er schützt sein Leben. Recht ist niemals gnadenlos! Das Kainsmal ist nicht Ausdruck der Schande, sondern des Schutzes. Derjenige, der gemordet hat, weil sein Opfer vor Gottes Augen keine Gnade gefunden hatte, trägt nun am tiefsten Punkt seines Lebens das Zeichen der Gnade Gottes an seinem Körper. Damit er nicht vergehen kann, wie ein Hauch – durch die Hand eines gemachten Mannes.