Nur so bleibt man erfolgreich. Aber so bleibt man bestimmt kein ganzer Mensch, sagt Susanne Breit-Keßler
15.11.2010

Die Werbung macht es vor. Menschen trennen sich schick und schmerzfrei. Alles, was ihnen vom Partner bleibt, werfen sie mit einer lässigen Gebärde in den Gully - bis auf den Autoschlüssel. Mit strahlendem Lächeln quittieren sie bittere Niederlagen. Es gibt schon ein, natürlich käufliches, Mittelchen, um damit klarzukommen. Alles ist machbar, Herr Nachbar. Kein Wunder, dass man bei dieser Art von medialer und unmenschlicher Dauerberieselung verlernt, sich selbst und anderen einzugestehen, wie es einem wirklich geht, was einem fehlt.

Philipp, Manager in einem großen Konzern, hat Prostatakrebs. Seiner Frau und den Kindern verbietet er, darüber zu sprechen. Nicht einmal Eltern und Schwiegereltern dürfen von seiner Erkrankung erfahren. Er nimmt Urlaub, um sich operieren zu lassen. Danach will er gleich wieder ins Geschäft einsteigen.

Sophia arbeitet im Ministerium auf einem hoch dotierten Posten. Sie muss sich nach einem leichteren Herzinfarkt einem Eingriff unterziehen - und tut das in den Sommerferien. Ihre engste Freundin, Familie hat sie keine, verdonnert sie zum Schweigen.

Wer immer funktioniert, ist erfolgreich. Wer Schwächen zeigt, fällt unten durch: nicht belastbar. Die Schmerzen der anderen sind schwer zu ertragen. "Wie tapfer sie ist", sagt man oder: "Wie mannhaft er das hinnimmt! " - und huldigt einer Haltung, die auf Dauer kaputtmacht. Die Ehefrau trägt beim Plausch mit Nachbarn ein verkrampftes Strahlen auf dem Gesicht. Die Kinder müssen mit zusammengebissenen Zähnen durch den Klassenalltag gehen. Die Freundin zwingt sich dichtzuhalten.

Natürlich braucht man nicht jedem auf die Nase binden, wie es dem liebsten Menschen und einem selbst geht. Man muss unterscheiden: Wem mag ich mich anvertrauen? Wer ist eine wirklich gute Gesprächspartnerin, ein liebevoller Zuhörer? Aber statt mit so jemandem zu reden, wird unendlich viel Energie verbraucht, um den Schein aufrechtzuerhalten. Eine Energie, die woanders notwendiger gebraucht würde. Denn es kostet Kraft, die Diagnose zu verarbeiten, gegen Panik anzugehen. Es kostet Kraft, die täglich nötigen kleinen Schritte zu unternehmen: nicht zu schnell, nicht zu besorgt.

An dieser Kraft fehlt es, wenn man sie verschleudert. Umgekehrt wird man stärker, wenn man sich Raum für die eigenen Sorgen nimmt. Mal mehr, mal weniger geduldig allein und mit anderen gemeinsam die dunklen und die hellen Räume, die sich dabei auftun, durchschreitet. Es macht stärker, wenn man zugibt: Ich kann und will nicht immer bloß funktionieren. Wer zugibt: "So bin ich jetzt", der denkt an sich und lässt sich nicht nur herumschieben und gebrauchen. Gedanken und Gefühle den richtigen Menschen offenlegen - das macht lebendig.

Bei den diesjährigen Passionsspielen in Oberammergau leidet der Christus vor aller Welt - zitternd und bebend hängt er am Kreuz. Er verzichtet darauf, den Helden zu geben. Er nötigt seine Familie und seine Freunde nicht dazu, sich und ihren Jammer zu verleugnen. Es ist notwendig, zu schreien, zu reden, um nicht vom Leiden zerstört oder von der Gleichgültigkeit aufgesogen zu werden - sondern zu leben.

Zu leben mit der eigenen, ganzen Menschlichkeit, als ganzes Kind, als ganzer Mann und als ganze Frau: mit dem Erschrecken und Entsetzen über die eigene Schwachheit, mit Wut und Zorn über alles, was einem fehlt, mit dem Bewusstsein, dennoch ein wunderbarer Mensch zu sein. Je mehr Leute darauf bestehen, dass beständiges Funktionieren niemals menschlich macht, desto eher wird diese Gesellschaft zu einer, die wirklich human ist.

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