Diese hohen Decken, die wuchtigen Mauern! Gabriele Tergit ist mit ihren 29 Jahren bereits bekannt im Berliner Journalismus für ihre pointierten Texte über das Gesellschaftsleben. Aber hier vor dem Verhandlungssaal im Kriminalgericht Moabit verlässt sie der Mut. Es ist ihr erster Auftrag als Gerichtsreporterin. Gerichtsreporter ist zu jener Zeit ein klassischer Männerberuf. Zwar schert sie sich sonst auch wenig um Konventionen, doch diesmal traut sie sich nicht hinein – ungewöhnlich für diese kluge, politisch denkende Frau.
Juliane Ziegler
Elise Hirschmann, so ihr Geburtsname, stammt aus einer jüdischen Unternehmerfamilie. Zunächst strebt sie einen Beruf in der Sozialfürsorge an, kommt mit Frauenrechtlerinnen in Kontakt, beschließt, Geschichte und Philosophie zu studieren. 1925 promoviert sie über den Paulskirchen-Abgeordneten Carl Vogt. Da arbeitete sie bereits als Journalistin für die "Vossische Zeitung" und das "Berliner Tageblatt" unter dem Pseudonym "Gabriele Tergit". Sie beschreibt das Berlin der Zwanzigerjahre, seinen Glanz und seinen Niedergang. 1931 wird ihr mediensatirischer Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" erscheinen – ein großer Erfolg.
Sie veränderte die Berichterstattung aus den Gerichten
Dass sie sich nicht in den Verhandlungssaal getraut hat, wurmt sie. Sie ringt mit sich. Ein halbes Jahr später beschließt sie, noch mal zum Kriminalgericht zu gehen. Was ihre männlichen Kollegen schaffen, wird sie ja wohl auch können! Natürlich kann sie es. Und sie wird mit ihren Berichten in den kommenden Jahren die Prozessberichterstattung verändern. "Ich schrieb kein Wort mit, um nicht aufzufallen", erinnert sie sich an den ersten Prozess. Die Dialoge merkt sie sich, den Text formuliert sie später aus dem Kopf. Anders als ihre männlichen Kollegen, die sachliche Berichte über Tat und Täter verfassen, legt Gabriele Tergit ihren Fokus auf die Umstände, die zur Anklage führten. Häufig sind es die einfachen Menschen, die in Moabit vor Gericht stehen, Arbeitslose, Zimmermädchen, Gauner. Es geht um Raub und Heiratsschwindel, Hochstapelei, Mord. Ab 1924 schreibt Tergit monatlich neun Gerichtsreportagen für das "Berliner Tageblatt".
In Berlin-Moabit werden auch politisch motivierte Straftaten verhandelt. So beobachtet Gabriele Tergit dort 1932 einen Prozess gegen Adolf Hitler wegen eines Pressevergehens und regt sich über die zuvorkommende Haltung der Justiz ihm gegenüber auf, "Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit" überschreibt sie ihren Artikel. Tergits politische Haltung sowie ihre jüdische Herkunft werden gefährlich für sie.
Ein SA-Trupp versuchte, ihre Wohnungstür aufzubrechen
Tergit sieht die zunehmend instabilen politischen Verhältnisse, die nationalsozialistische Gleichschaltung der Justiz und den stärker werdenden Antisemitismus. Anfang 1933 spricht sie mit ihrem Kollegen Carl von Ossietzky über die Lage: "Ich bleibe auf alle Fälle. Man muss doch der Historie zusehen!" Kurz darauf wird Ossietzky in ein Konzentrationslager gebracht. Und Gabriele Tergit wird überfallen: Am 4. März, es ist ihr 39. Geburtstag, versucht ein SA-Trupp, sie in ihrer Wohnung zu verhaften. Die Männer schaffen es nicht, die Tür aufzubrechen. Überstürzt verlässt sie mit ihrem Mann, einem Architekten, und ihrem Sohn Berlin.
Nach ihrer Flucht lebt sie erst in Palästina, dann in London. Ende der Vierziger besucht sie Berlin und schreibt noch einige Gerichtsreportagen, fühlt sich aber unfähig, all die aktuellen Themen journalistisch zu bearbeiten. 1951 veröffentlicht sie den Roman "Effingers", doch aus dem Exil kann sie als Autorin nicht mehr Fuß fassen – weder in der Bundesrepublik noch in der DDR gibt es Interesse an ihrer Arbeit.
Gabriele Tergit arbeitet als Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Erst nach ihrem Tod 1982 werden ihre Werke wiederentdeckt.
"Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen", die Autobiographie von Gabriele Tergit, ist im Mai 2018 im Schönling und Co. Verlag als Neuauflage erschienen. Ihr Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" wurde ebenfalls vom Schöffling und Co. Verlag 2016 neu aufgelegt.
In Berlin erinnert die "Gabriele-Tergit-Promenade" nahe des Potsdamer Platzes an die Journalistin.