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Ein neuer Job, ganz tolle Möglichkeiten. Nur: Ein Umzug ist nötig und zwar nicht bloß bis zur nächsten Ecke. Von Hamburg nach München, von Köln nach Leipzig, von Berlin nach Stuttgart: Hunderte von Kilometern werden künftig zwischen einem selbst, den Eltern und den Geschwistern liegen.
Dabei war es so harmonisch. Kinder- und Erwachsenengeburtstage feierte man gemeinsam, genauso wie Ostern und Weihnachten. Die Kleinen konnte man bei Oma und Opa abgeben, weil man sie sicher und vergnügt wusste. Probleme ließen sich gut mit Bruder oder Schwester besprechen; und wenn es mal krachte, versöhnte man sich auch schnell wieder.
Eine glückliche Familie bleibt auch über Ozeane hinweg beeinander
All das aufgeben? Es geht nicht anders man will und muss sich dem Arbeitgeber mobil und flexibel zeigen, will sich als junger Mensch endlich auf eigene Füße stellen und weiterentwickeln oder in späteren Jahren ein bisschen jugendliche Spontaneität erhalten und nicht ewig am selben Ort bleiben. Allein: Gibt es Menschen, die einem die Familie wirklich ersetzen können? Die emotional und geistig auf demselben Niveau sind wie Eltern, Geschwister, Tanten, Cousins?
Wer Familie positiv erlebt, wird sie in der Ferne vermissen. Da helfen dann nur Briefe oder Mails, Kurznachrichten auf dem Handy und ausführliche Telefonate. Manche installieren auch Webcams im Kinderzimmer, die täglich live an die Großeltern übertragen, wie der Nachwuchs sich entwickelt. Freunde und Freundinnen ergänzen dann von außen diesen stabilen inneren Kreis. Sie gehören dazu, man pflegt gemeinsame Interessen wie Theater oder Kino, diskutiert, verbringt gemütliche Abende in der Kneipe und hilft sich gegenseitig, wo es nötig ist. Aber das Motto "Blut ist dicker als Wasser" stimmt hier immer. Diese alte Redeweise machte einst der Preußenkönig Wilhelm II. zum geflügelten Wort. Er hat es übrigens auch auf die "Stammesgemeinschaft" zwischen Deutschen und Engländern angewandt. Eine glückliche Familie bleibt folglich sogar über Ozeane hinweg beieinander; Freunde können dann gern dazukommen.
Aber diese Idylle gibt es nicht immer. Karl Kraus, österreichischer Schriftsteller mit Hang zum Sarkasmus, hat einmal gesagt: "Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit." Nicht jeder hat das Glück, ein liebevolles Zuhause zu erleben, mit Eltern, die einen nicht nur fordern, sondern auch fördern. Mit Geschwistern, mit denen man durch dick und dünn gehen kann.
"Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter."
Manchmal ist auch das Gegenteil der Fall: Die Familie ist der Ort, an dem man die meisten Einschränkungen erfährt, wo man unter Druck gesetzt wird und sich nicht entfalten kann. Im Neuen Testament steht eine Geschichte, in der Jesu Mutter und seine Geschwister ihm nachsetzen, weil sie glauben, er sei "von Sinnen". Sie lassen nach ihm schicken und wollen ihn aus der Menschenmenge holen, zu der er gerade spricht. Auf den Hinweis, seine Familie warte auf ihn, schaut Jesus sich um und sagt mit Blick auf die Zuhörenden: "Das hier sind meine Mutter und meine Brüder." Und er fährt fort: "Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter." Ein anstößiger und ein notwendiger Text für alle, die daheim kein Zuhause haben.
Freunde können die wahre Familie sein wenn die eigentliche Verwandtschaft einen einengt, keinen Sinn hat für die eigenen Begabungen, für Träume und Sehnsüchte; wenn sie Hoffnungen nicht teilt und Schwächen ablehnt. Freunde können auch dann die wahre Familie sein, wenn man seine Eltern schon längst verloren und keine Geschwister hat. Wahl- und Seelenverwandtschaften, Freunde und Freundinnen, die einem Vater, Mutter, Schwester und Bruder, manchmal auch Kinder sind, sind ein Segen, weil man bei ihnen umgekehrt auch mütterliche, väterliche, geschwisterliche oder kindlich-geborgene Gefühle haben kann. Je nachdem, was gerade so dran ist im Leben: Miteinander reden über das Leben, die Liebe, das Grauen von Krankheit und Tod, über das, was danach kommt. Zusammen lachen und albern sein, ein bisschen spinnen und verrückt sein, weinen, feiern. Einander zuhören, gemeinsam schweigen; sich helfen und helfen lassen in beruflichen und gesundheitlichen Krisen oder in solchen, in denen es um die Kinder oder Partnerschaft geht. Sich beschenken nicht nur mit Dingen, sondern vor allem mit Ehrlichkeit.
Wer von seiner Familie Abschied nehmen muss, weil die räumliche oder die seelische Entfernung zu groß ist, der sollte seine Freunde und Freundinnen als Wahlverwandte pflegen. Thomas Mann hat in einem Brief geschrieben: "Freundschaft und Treue heißt ja nicht, mit allem übereinzustimmen, wozu den anderen sein geistiges Schicksal führt, sondern an seine Lauterkeit glauben und ihn selbst im Irrtum oder dem, was einem so vorkommt, nicht verlassen." Freunde, die einen nie im Stich lassen: ein Geschenk des Himmels.