Hat er lange überlegt? „Nicht in diesem Moment“, sagt er zehn Jahre später in einem Interview im Westdeutschen Rundfunk: „Ich habe mein ganzes Leben der Solidarität mit den Arbeitern gewidmet.“ Jetzt musste er handeln. Und so stellte sich der überzeugte Kommunist Wilhelm Grothaus, schon einmal unter den Nazis wegen seiner Überzeugungen verurteilt, am Morgen des 17. Juni 1953 in Dresden an die Spitze der demonstrierenden Arbeiter. Ein wahrer Triumphzug sei das gewesen, berichtet er im Rückblick: „Körbeweise“ hätte man weggeworfene SED-Parteiabzeichen einsammeln können. Als der Zug an einer Schule vorbeikam, da hätten „die Kinder die russischen Lehrbücher zerfetzt aus dem Fenster“ geworfen.~~
Wilhelm Grothaus, geboren 1893 in Herten, Westfalen, war ein Mann ganz nach dem Geschmack der SED. Die Eltern waren Arbeiter, der fleißige Sohn besuchte die Abendschule, wurde Lohnbuchhalter und ab 1926 Geschäftsführer einer sozialdemokratischen Wohnungsbaugesellschaft in Berlin. 1918 war er in die SPD eingetreten, 1932 in die KPD gewechselt. Mit seiner Frau war er nach Dresden gezogen, hatte sich im kommunistischen Widerstandskampf engagiert. Er wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. In den Feuernächten des 13. Februar 1945 konnte er aus dem Gefängnis fliehen.
Als ein Kollege in den Westen floh, wurde Grothaus entlassen
Von der DDR erhoffte er sich einen Neuanfang. Er glaubte an den Kommunismus als Staatsform und machte zunächst eine steile Karriere im Landwirtschaftsministerium. Doch: Schon 1950 wurde er fristlos entlassen. Ein Kollege im Ministerium war in den Westen geflüchtet, Grothaus wurde „mangelnde Aufmerksamkeit“ vorgeworfen. Er sollte sich in der Produktion „bewähren“ und wurde strafversetzt in den staatlichen Brückenbaubetrieb VEB Abus. Kamen ihm hier die ersten Zweifel am System der DDR?
Juni 1953: Schon lange war die Bevölkerung unzufrieden. Im Mai hatte die SED die „Arbeitsnormen“ erhöht. Die Arbeiter in den Fabriken sollten schneller und mehr produzieren. Zugleich behaupteten Parteifunktionäre, es gebe eine „Verbesserung des Lebensstandards“. Erst in Ostberlin, dann im ganzen Land entlud sich die Wut gegen Walter Ulbricht und die SED. „Spitzbart, Bauch und Brille, sind nicht Volkes Wille“, skandierten die Menschen auf den Straßen.
Im Abus-Werk in Dresden organisierte Grothaus den Widerstand. Als ihm ein Parteigenosse Verrat vorwarf, wehrte er sich: Mit dem wirklichen Kommunismus habe die DDR-Regierung nichts mehr zu tun. „Verrat an der Arbeiterklasse“ wäre es vielmehr gewesen, „nicht mitzumachen!“ 24 Stunden später war alles vorbei. Grothaus wurde verhaftet. Im selben Gerichtsgebäude, in dem ihn die Nazis angeklagt hatten, erhielt er eine härtere Strafe als andere Mitangeklagte, die bis 1945 bekennende Faschisten waren: 15 Jahre Zuchthaus.
Der Angeklagte soll sich jahrelang als "Genosse" getarnt haben
Die „Sächsische Zeitung“ lieferte kurz darauf die propagandistische Begründung – der Angeklagte Grothaus habe sich jahrelang als braver Genosse getarnt und jetzt sein „wahres Gesicht, die Fratze eines Verräters an den Interessen der Arbeiterklasse“ gezeigt. Erst 1960 wurde er im Rahmen eines allgemeinen Gnadenerlasses frühzeitig entlassen und reiste in den Westen. Eine Rehabilitation gab es nie.
Im Stadtmuseum Dresden, Abteilung Kriegszeit bis 1989, laufen auf einem Bildschirm Ausschnitte einer WDR-Dokumentation von 1966. Man sieht einen älteren Mann, der lachend erzählt, wie er sich nach der Hungerhaft vor allem „Gehacktes“ wünschte und dann wochenlang an Erbrechen litt, weil der geschwächte Körper feste Nahrung nicht vertragen konnte.
1966 starb Wilhelm Grothaus, unbeachtet von der Öffentlichkeit, in seiner Geburtstadt Herten.
In Dresden erinnert eine stählerne Panzerkentte auf dem Postplatz an den 17. Juni 1953. Im Stadtmuseum-Dresen laufen Ausschnitte aus der WDR-Dokumenationn über Grothaus in der ständigen Ausstellung. Stadtrundgänge zu regionaler Politik und Geschichte in Dresden oranisiert der Verein „Igeltour.
Lesetipp: "Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Ursachen, Ereignis, Wirkung und Rezeption" aus dem Links-Verlag Berlin 2013, 200 S., 30 Euro; darin auch ein Aufsatz über den Prozess gegen Grothaus und die spätere Rezeption.