Mitarbeiter der Bahnhofsmission in Halberstadt
Mitarbeiter der Bahnhofsmission in Halberstadt
Ina Schoenenburg
"Da wächste rein"
Halberstadt und die Flüchtlinge – das klappt ganz gut. Die Kleinstadt ist eine Modellregion für Diakonie
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
15.10.2016

Größe M oder XL? Es sind die alltäglichen Fragen, die besser sind als jedes Willkommensschild. Seit heute Vormittag ist Hassan Ali* schon in der Halberstädter Bahnhofsmission. Leiter Constantin Schnee hat ihm ­alles gezeigt: den kleinen Gastraum mit den vier sauber ge­wischten Holztischen. Die Kaffeemaschine, die immer in Betrieb ist. Das große Holzkreuz an der Wand. Zu zweit haben sie die Geschäfte in der Bahnhofshalle abgeklappert, und Schnee hat ihn überall vorgestellt: „Unser neuer Ehrenamtler. Er will was tun für uns. Nicht nur nehmen, auch geben.“ Und ja, er komme aus Syrien, er spreche noch kein Deutsch. Englisch auch nicht. Ali, 41, stand daneben, ein gut aussehender Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, und zuckte bedauernd mit den Achseln. Egal: Im Reisezentrum, an der Dönerbude, beim Bäcker, im Buchladen – alle hätten die Daumen hochgereckt, erzählt Schnee später, auch die Verkäuferin, die sonst von Ausländern wenig halte. „Etwas tun für uns“ – das klang gut für alle.

Diakonie

Praktische Hilfe am Nächs­ten, Nächstenliebe, das ­gehört zur Kirche wie das Amen. Die Diakonie ist die soziale Arbeit der evangelischen Kirchen. Der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern hatte 1848 unter dem Eindruck zahlreicher Revolutionen in Mitteleuropa an die Kirche appelliert, den Kampf gegen Armut und Verwahrlosung aufzunehmen. 

Daraufhin entstanden überall in Deutschland diakonische Vereine. Die Diakonie betreut Krankenhäuser und Kindergärten, Altenheime und Hospize, leistet Katastrophen- und Flüchtlingshilfe, unterstützt Jugendliche und behinderte Menschen. Und sie be-treibt – oft mit der katholischen Caritas zusammen – die Bahnhofsmission.

Und nun, kurz vor Ende seiner ersten Schicht, Ali will sich gerade einen Kaffee holen, drückt ihm Constantin Schnee ein kleines weißes Schild in die Hand, mit einer Sicherheitsnadel zum Anstecken. „Hassan Ali, Praktikant“ steht drauf. Hassan befühlt es vorsichtig, lächelt, wie er das oft tut an diesem Tag: herzlich, breit, aber auch ein bisschen verhalten, als wäre er nie ganz sicher, ob das die richtige Reaktion ist. Schnee ist schon wieder weg, ruft kurz darauf aus dem hinteren Flur: „M oder XL? Welche Größe hast du?“ Er hat zwei blaue Westen im Arm, die bundesweite Uniform der Bahnhofsmission. Ali probiert sie an. M ist kurz und eng, XL lang und weit. Trotzdem besser. „Da wächste rein!“, kalauert Constantin Schnee, 51, der einen halben Kopf kleiner ist als Hassan, ein quirliger Typ in Bermuda-Jeans und T-Shirt unter der blauen Weste. Er steckt ihm das Namensschild an. Klopft ihm auf die Schulter: „Nun gehörst du zu uns!“ 

Täglich kamen Hunderte, zum Teil elende Gestalten

Halberstadt, Kreisstadt in Sachsen-Anhalt, 30 Kilometer östlich der ehemaligen innerdeutschen Grenze, 45 000 Einwohner. Ein früherer Fachwerktraum, den Fliegerbomben im Zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstört hatten. Was nicht kaputt war, hat die DDR verrotten lassen. Heute hat die Domstadt eine sehr kleine, sehr schöne Altstadt, viele Plattenbauten und den Ruf, eine Hochburg der rechten Szene zu sein. ­Die „Huffington Post“ attestierte ihr im Herbst 2015 „Engstirnigkeit, Fremdenfeindlichkeit und fehlende Perspektive“. Die ­Partei Die Rechte ließ hier im Herbst 400 Demonstranten aus ganz Deutschland aufmarschieren. „Und 400 Gegendemonstranten zwangen sie mit Sitzblockaden, immer wieder von der Route ­abzuweichen“, sagt Constantin Schnee.  

Er liebt diese Stadt, die er ein bisschen so sieht wie sich selbst, der sich schon zu DDR-Zeiten zum Christsein bekannte: eigenwillig, ehrlich, widerständig. „Es geht uns nicht schlecht“, sagt er. Mehrere medizintechnische Betriebe haben sich nach der Wende angesiedelt, die Arbeitslosigkeit liegt mit 6,9 Prozent deutlich ­unter dem Landesdurchschnitt. Die sogenannte Flüchtlingswelle im Jahr 2015 habe sie dennoch kalt erwischt, sagt er. Plötzlich war Halberstadt ein Ziel Tausender Menschen. Denn vor den Toren der Stadt, in einer ehe­maligen ­Kaserne, liegt die Zentrale Anlaufstelle für Asyl­be­werber in Sachsen-Anhalt. Alle, die in dieses Bundesland wollen oder zugewiesen werden, müssen hierher, für die ersten Wochen, manche bleiben Monate. Im Herbst 2015 kamen täglich Hunderte am Bahnhof an, erzählt Schnee, zum Teil elende Gestalten, manche ­ohne Schuhe, zu dünn angezogen oder mit mühsam zu­sammengeschnürten Koffern. Sie kamen oft mit den Abendzügen, ­in ­der Hand eine Busfahrkarte bis zur sechs Kilometer entfernten Kaserne. Der letzte Bus war aber oft schon längst weg, die Taxis waren zu teuer oder die Fahrer unwillig, die Fremden die sechs Kilometer zu fahren. Und dann waren da noch die Flüchtlinge, die aus Bitterfeld oder Saalfeld mit Reisebussen direkt gebracht worden waren, aber gleich weiter zum Bahnhof liefen, um zu Verwandten nach Schweden, Hessen oder Holland zu reisen.

Helfer in Angst

Kurz: Es war Chaos am Bahnhof. Und die von Diakonie und Caritas getragene Bahnhofsmission war mittendrin. Schnee und sein Team schmierten Stullen im Akkord, verhandelten mit den Taxifahrern, organisierten Mitfahrgelegenheiten. Als die Leute begannen, in der Unterführung auf dem Betonboden zu schlafen, schlug Schnee Alarm und forderte in einer Art Brandbrief Unter­stützung, um die Bahnhofsmission auch nachts öffnen zu ­können: „Wenn die ungeordnet wirkenden Verhältnisse am Bahnhof in den frühen Morgenstunden für die Reisenden nicht geändert werden, wird es zu öffentlichen Protesten kommen. Ein Vorgeschmack ist in den sozialen Netzwerken zu spüren.“ Nicht nur dort. Eine Passantin spuckte ihm in der Bahnhofs­halle ins Gesicht, weil er sich um Flüchtlinge kümmerte. Und eine ­seiner besten Mitarbeiterinnen wollte sich bei einem Einsatz in der Zentralen Anlaufstelle nicht fotografieren lassen: Sie wohnt parterre und hatte Angst, dass ihr etwas durchs Fenster fliegt. 

Sommer 2016. In einer Innenstadtkirche geben Halberstädter regelmäßig Konzerte für Einheimische und Flüchtlinge, die dazu aus der Anlaufstelle mit Bussen abgeholt werden. Bei der Landtagswahl im März lag in Halberstadt die CDU vorn und nicht die AfD – wenn auch deren Ergebnis von 24,6 Prozent in etwa dem Landesdurchschnitt entsprach. Pegida hat in der Stadt nicht Fuß gefasst, und es gab keine Brandanschläge wie anderswo. In der fremdenfeindlichen Facebook-Gruppe „Nein zum Heim im Halberstadt“ postet ein User: „Nicht so viel los hier, oder?“ 

"Die" und "wir"

Wie hat Halberstadt das geschafft? Die Diakonie hat die Stadt zu einer von fünf Modellregionen erklärt, die sie seit einem Jahr begleitet. „Wir sind Nachbarn. Alle“ heißt das Motto. Die Diakonie sorgt dafür, dass sich alle miteinander vernetzen: kirchliche, diakonische und andere Einrichtungen, hilfsbereite und bedürftige Menschen. In Halberstadt war das nicht so schwer, hier arbeiteten sowieso schon viele Leute ehrenamtlich. „Es ist noch nicht die Zeit zum Aufatmen“, sagt Angelika ­Zädow, „aber es gibt immer mehr Leute, die etwas für die Flüchtlinge tun.“ Die Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises ­Halberstadt ist eine schmale Frau mit feinen Gesichtszügen, die sich Zeit zum Nachdenken und Formulieren nimmt. Für die Presse hat sie sieben Initiativen aus dem Kirchenkreis eingeladen, die Sprachkurse geben, Musicals mit syrischen und deutschen Kindern einstudieren, leerstehende Wohnungen für Flüchtlings­familien renovieren.

###autor###Sie erzählen, dass sie keine Angst mehr ­haben, dafür angefeindet zu werden. Sich aber immer wieder rechtfer­tigen müssen, vor allem nach den Ereignissen in ­München, Ansbach und Würzburg. „Jetzt ist die Furcht vor dem Fremden wieder größer. Jetzt sind es wieder ‚die‘ und ‚wir‘. Das ist ein Rückschlag für unsere Arbeit“, sagt eine junge Frau, deren Gemeinde eine ­Lesung organisierte, mit Fluchtgeschichten von Deutschen aus dem Ort und neu angekommenen Syrern. „An dem Abend waren wir uns alle ganz nah. Einfach Menschen mit ähnlichen Erfahrungen.“ Aber natürlich weiß sie, dass das nur ein Moment ist, der nicht alles ändert.  

Sozialarbeiter Christopher Bänecke berät bei der Halberstädter Diakonie Migranten. „Die Freiwilligen können nicht alles aus­bügeln. Das politische System grenzt die Flüchtlinge aus. Postiert sie weit weg von uns, überlässt sie Tag für Tag dem Nichtstun, der Einsamkeit, den Kriegsbildern im Kopf.“ Es solle keiner glauben, dass ein Bastelnachmittag jemandem helfe, der Abend für Abend weint, weil er nicht weiß, ob er seine Familie wiedersehen wird.

"Ich suche in Deutschland den Frieden"

Wenn Bänecke das sagt, denkt er an Leute wie Hassan Ali, den er an die Bahnhofsmission vermittelte und dessen Ankunftsgeschichte so gradlinig und erfolgreich klingt: Geflohen aus einer vom IS besetzten syrischen Stadt, wo er als Journalist arbeitete, seit sechs Monaten in Deutschland. Ali ist als Asylberechtigter anerkannt, hat seit kurzem eine eigene kleine Wohnung und einen Integrationslotsen, einen älteren Beamten, der mit ihm Deutsch lernt und demnächst Gardinen kaufen will. Und nun auch noch das Ehrenamt, dreimal die Woche. Ali könnte jetzt durchstarten in Deutschland. Aber auf die Frage, was er sich für die Zukunft wünscht, tippt er etwas auf Arabisch in sein Smartphone, eine App übersetzt: „Ich warte, dass meine Schwester aus der Türkei zu mir kommt. Sie ist krank.“ In den nächsten Nachrichten kommen Begriffe vor wie: Giftgas, Leberschaden, Transplantation in der Türkei. Zwei Brüder. Beide tot. Ali macht Gesten, ein Messer, das den Hals abschneidet, eine Spritze, die in den Arm gejagt wird. Ali schreibt: „Mein Name und Gesicht darf nicht in den Artikel.“

Constantin Schnee kennt Alis Geschichte nicht in allen ­Einzelheiten. Aber er freut sich, dass er da ist. „Gott hat ihn hierhin gelenkt“, er lacht ein bisschen, obwohl er das ernst meint. Ali sei clever, freundlich und zugewandt – ein echter Gewinn für die Gäste. Wie lange er bleiben wird? Die Bahnhofsmission ist keine Endstation, eher ein Zwischenhalt. Irgendwann, da ist Schnee sicher, wird Ali die blaue Weste wieder ausziehen, das Namensschild zurückgeben. Und sich auf Deutsch verab­schieden. „Ich suche in Deutschland den Frieden“, hat der Syrer in einer seiner Handynachrichten geschrieben. Schnee wünscht ihm, dass er ihn findet. Vielleicht ja auch in Halberstadt.

* Name von der Redaktion geändert 

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