Zäune und Stacheldraht:  Nach außen sind Anstalt und Häftlinge konsequent abgeschirmt
Zäune und Stacheldraht: Nach außen sind Anstalt und Häftlinge konsequent abgeschirmt
Frank Schultze/Zeitenspiegel
Gute Pflege hinter Gittern
Gefangene in Deutschland werden immer älter – wie alle Deutschen. In der Justizvollzugsanstalt Hövelhof im Paderborner Land gibt es eine eigene Abteilung für chronisch kranke und pflegebedürftige Häftlinge
Privat
Friedrich Stark
26.08.2015

Von seinem Fenster aus sieht er weit hinaus in die Landschaft. Es ist der schönste Blick, den er in den vergangenen sieben Jahren aus einer Zelle hatte. Und doch erinnert er sich wehmütig an die Zeit in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bochum, trotz des tristen Blicks aus seiner dortigen Zelle auf eine Betonmauer.

###autor###„Ich hatte mich weit hochgearbeitet und es in kürzester Zeit zu etwas gebracht“, erzählt Herr M., ein freundlicher Rheinländer. Er ist 58 Jahre alt, hat einen runden Kopf und einen kleinen Bauch, der sich unter dem T-Shirt wölbt. „Ich hatte dort einen Superjob als Abfallentsorger, das war eine absolut privilegierte Position. Ich konnte mich auf dem gesamten Knastgelände bewegen. Das darf sonst keiner.“

Seit sieben Monaten lebt Herr M. nun in der Pflegeabteilung der JVA Hövelhof. Für ein normales Gefängnis ist er inzwischen zu krank. Sein Atem geht schwer, er muss ihn gut einteilen bei seiner lebhaften Sprechweise, denn er leidet unter der unheilbaren Krankheit COPD, der „Chronisch obstruktiven Lungenerkrankung“. „Ich hab nur noch knapp 50 Prozent Lungengewebe, alles andere ist durch die Krankheit abgestorben, dazu noch Asthma.“

Manchmal hat er mitten in der Nacht Asthmaanfälle mit ex­tremer Luftnot, dann überfällt ihn Todesangst. Er drückt die Notrufklingel, und ein Pfleger verab­reicht ihm Sauerstoff oder gibt ihm eine Spritze. Je nachdem ruft er auch den Notarzt, der den Gefangenen mit Blaulicht ins 100 Kilometer entfernte Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg zur Akut­versorgung bringt.
Vielleicht wird Herr M. seine restlichen acht Haftjahre hier in Hövelhof verbringen. 

Seit 1992 hat sich in Deutschland die Zahl der Gefangenen über 60 Jahren verdreifacht. Das liegt an der allgemeinen demografischen Entwicklung, die sich auch in den Gefängnissen zeigt, und am erhöhten Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft. Seit den 90er Jahren ist die durchschnittliche Dauer der Haft gestiegen. So werden auch die Menschen hinter Gittern immer älter – und damit kränker.

Umgeben von einem doppel­ten Sicherheitszaun mit Videokameras können in Hövelhof 29 chronisch kranke oder pflege­bedürftige Gefangene untergebracht werden, neben den 232 ­jungen Männern im offenen Jugendstrafvollzug. Sie leben auch hier in Zellen – mit ein paar Extras: Elektromotorisch verstellbare Betten, bei Bedarf eine Sauerstoffdauerversorgung, eine Notrufklingel. Waschbecken und Toi­letten sind teilweise rollstuhlgerecht angebracht. Das Pflegepersonal ist 24 Stunden am Tag präsent, und es gibt vor allem eine intensive ärztliche Betreuung mit den diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer großen allgemeinmedizinischen Praxis. So weit, so gut.

Verstellbare Betten, Sauerstoffanlage, Notrufklingel

„Aber wenn man nur kranke Menschen um sich hat, geht das manchmal schon an die Substanz“, sagt Herr M. Seine Mitgefangenen leiden auch unter psychischen Krankheiten, manche sind dement und können sich kaum mehr an ihre Tat erinnern. „Ich bin oft froh, wenn ich in meiner Zelle bin und das Elend der anderen nicht sehen muss.“

Fotograf

###drp|wv5y_UiZ6j9grAPrARZ8g_Wl00115688|i-38|Friedrich Stark|###Frank Schultze, geboren 1959, studierte Fotografie ­ in Dortmund und lebt auch dort. Ihn beeindruckte in der JVA Hövelhof der respektvolle Umgang miteinander.

Wenn man die hell gestrichenen Gänge in den beiden Etagen des Hauses entlanggeht, könnte man sich in einem normalen Krankenhausflur wähnen – wären da nicht die großen Schlösser an den Türen und trügen die Krankenschwestern und -pfleger, die zum großen Teil auch eine Ausbildung als Vollzugsbedienstete absolviert haben, nicht große altmodische Schlüssel bei sich.

Im Pflegeteam spricht man von Zimmern statt von Zellen, von Patienten statt von Gefangenen. Auf eine der Flurwände der Station hat ein ehemaliger Pfleger eine lang gestreckte, farbenfrohe Landschaft gemalt: ein bewaldeter Gebirgszug vor blauem Himmel, der in eine üppige Wiesenlandschaft übergeht, mit Blumen und Bäumen. Mittendrin steht das Wohnmobil eines Campers. Wer hierher kommt, hat das seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt. Die Männer saßen davor seit Jahren oder gar Jahrzehnten im normalen Vollzug, manche auch in Sicherungsverwahrung.

Hövelhof ist eine Einrichtung von fast familiärem Zuschnitt. Der Umgangston ist respektvoll, es gibt täglich zwei Freistunden statt wie sonst nur eine. Begleitete Ausgänge und externe Arztbesuche werden liberaler geregelt als im normalen Vollzug. Vergangene Weihnachten durfte Herr M. sich in Begleitung eines Beamten im Media Markt von Paderborn ein paar Blu-Ray-Discs für seinen 3D-Fernseher kaufen. Seine Zelle liegt in einem durch ein Gitter vom Flur abgetrennten Trakt von fünf Hafträumen, die den ganzen Tag offenbleiben dürfen. Außerdem verfügen die Häftlinge über eine eigene kleine Teeküche. Die anderen Zellen münden direkt auf den langen Flur, hier gelten fest geregelte Umschlusszeiten.

Die Männer in Hövelhof sind Mörder und Sexualstraftäter, Räuber und Drogenkriminelle. Allerdings dürfen sie weder als hochgradig gefährlich noch als ausbruchswillig gelten. Sonst werden sie in Justizkrankenhäusern mit der Hochsicherheits­stufe eins untergebracht.

Herr M. ist ein Totschläger und Mörder. Er hat zwei Menschen auf dem Gewissen, und man hat ihn dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Über die Einzelheiten will er nicht sprechen. „Es war eine schwere Tat, aber ich bin kein Kinder- oder Frauenverge­waltiger.“ Er hatte einen Job, leitete nebenher ein kleines Geschäft, besaß ein Auto und ein Haus.

Er war verheiratet und hat zwei Kinder. Aber kurz nachdem sich seine Frau von ihm nach 30 Jahren Ehe getrennt hatte, verlor er seine Arbeit, sein Geschäft ging pleite. Und dann beging er eben jene Tat, „die nichts mit meiner Trennung von meiner Frau zu tun hatte“, wie er sagt. 

Dass hier ein Inhaftierter stirbt, ist extrem selten

Alles, was mit seinem früheren Leben zu tun hatte, vernichtete er vor dem Antritt der Haft: Briefe, Fotos, Erinnerungsstücke. Er ­kappte sämtliche Bindungen. Keiner der Freunde und Angehörigen, auch nicht seine Kinder, durften ihn seither jemals besuchen. „Ich hab mich von der Hoffnung verabschiedet. Damit kann ich besser leben.“ Ans Rauskommen denkt er mit gemischten Gefühlen.

Dass jemand hier stirbt, ist selten. Entweder werden akut ­kranke Gefangene in ein Justizvollzugskrankenhaus eingeliefert, wo sie ihre letzten Tage verbringen, oder sie kommen in ein ­Pflegeheim oder in ein Hospiz. Ein Richter kann auch Haftverschonung anordnen, und die Gefangenen dürfen ihre letzte Lebensphase bei ihren Angehörigen verbringen, wenn es denn welche gibt und sie bereit dazu sind.

„Die größte Panik der meisten Inhaftierten ist, dass sie nicht mehr lebend aus dem Gefängnis herauskommen“, sagt Gefängnisseelsorger Ludwig Sanders. „Das gilt umso mehr für eine Kranken- und Pflegestation wie Hövelhof.“ Sanders ist seit zwölf Jahren Seelsorger in Hövelhof. Auf dem Tisch brennt eine Kerze, in der Luft hängt noch der Zigarettenrauch des letzten Gefangenen, der zum Gespräch hier war. Und dann erzählt er die Geschichte des Gefangenen Fritz B., der partout in Hövelhof sterben wollte.

Fritz B. hatte wegen einer schweren Gewalttat bereits viele ­Jahre in der JVA Werl eingesessen, als man bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium feststellte. Er hätte in Werl bleiben können. Die JVA dort bot als Erste in Deutschland eine halbwegs humane Betreuung für sterbende Häftlinge an. Fritz B. hätte auch via Haftverschonung entlassen werden können. Doch draußen hatte er niemanden mehr, außerdem ängstigte ihn die Freiheit. Er wollte in vertrauter Umgebung sterben, in der Atmosphäre der Gefangenschaft. Von einem Mitgefangenen hatte er von Hövelhof gehört, dort wollte er seine letzten Wochen verbringen.

Für Hövelhof wurde sein Wunsch zum Kraftakt: institu­tionell, medizinisch, menschlich. Der leitende Arzt der Pflegestation und drei der Pflegekräfte absolvierten eine Palliativausbildung, und der damalige JVA-Leiter erreichte die Zustimmung des Justiz­ministeriums, dass der Haftraum des Schwerkranken 24 Stunden offenbleiben durfte, damit die Mitgefangenen ihn jederzeit besuchen konnten und er noch einmal die minimale Öffnung seiner hermetischen Welt erlebte. Wenn er wollte, bekam Fritz B. an seinen letzten Tagen auch ein Bier. Alkohol im Knast – ein Tabubruch!

Der Seelsorger Sanders wurde zum Sterbebegleiter. „In unseren Gesprächen spielte die Tat eigentlich keine Rolle. Am meis­ten sprach Fritz B. davon, wie sehr er unter dem Kontaktabbruch seiner Familie litt. Er verleugnete komplett, dass er dafür selber verantwortlich war. Anderen Inhaftierten gegenüber würde ich das natürlich ansprechen. Aber nicht jemandem gegenüber, der stirbt. Jeder Mensch darf auch mit seiner Lebenslüge sterben.“

Fritz B. starb mitten in der Nacht, allein. Der Arzt stellte am nächsten Morgen den Tod fest, der Seelsorger hielt eine Aussegnungsfeier in der Zelle. „Von den Mithäftlingen wollte keiner teilnehmen, das ging ihnen zu nah.“ Fritz B. erhielt eine Erdbe­stattung auf dem kleinen Friedhof des Städtchens Hövelhof.

Auf seinem Gebetbuch hat Lukas einen Rosenkranz arrangiert

Einer, der sich ausgerechnet in der JVA der Kostbarkeit seines Lebens bewusst wurde, ist der derzeit jüngste Pflegling des Hauses. Jeden Vormittag fährt der 38-jährige Lukas R. im Rollstuhl mit Schwung die Rampe zum Freistundenpark hinunter. Dann verbringt er eine Stunde in dem Gartengelände, rollt an einem kleinen Teich entlang, vorbei an Bänken, einer kleinen Minigolfanlage, und bleibt meist vor der Voliere mit Wellen- und Nymphensittichen stehen, die ein Mithäftling hegt und pflegt.

„Ich kann in dieser Umgebung ganz anders nachdenken, über mich, über mein Leben“, sagt der bleiche, schlanke Mann. Er stammt aus Polen. Seine Drogenkarriere begann mit 13, drei Jahre später wurde er zum ersten Mal verhaftet. Doch er machte weiter: Drogen, dealen, klauen, Knast. Immer wieder. „Ich hab mein ganzes Leben weggeschmissen, meine Kindheit, meine ­Jugend“, sagt er heute. Wenn er zwischendurch in Freiheit war, stürzte er sich in seine zweite Sucht, den Extremsport: Inlineskating in der aggressiven Variante, riskante BMX-Rennen mit zahllosen Stürzen.

Er verliebte sich in eine Frau. Mit ihr war er sechs Jahre lang glücklich. In dieser Zeit arbei­tete er und begann zu malen, er konnte sogar einige Bilder verkaufen. Alles schien gut. Bis eine seiner Hüften durch Abnutzung so kaputt war, dass er eine Prothese brauchte. Nach der OP schonte er sich nicht, das Gelenk konnte nicht einwachsen und entzündete sich.

Er beging eine neue Straftat und landete wieder im Knast. Später wurde auch noch Multiple Sklerose diagnostiziert. Als die Schübe begannen, hatte er Sehstörungen, dann fielen die ­Muskeln in den Beinen aus, der Oberkörper wurde hypersensibel, der Kopf war wie taub.

In einer Rehaklinik lernte er seine Freundin kennen, sie ­arbeitete an der Rezeption. „Da sieht man, dass man immer noch attraktiv sein kann, auch wenn man im Rollstuhl sitzt“, sagt ­Lukas R. und lacht. Seit fast zwei Jahren lebt er jetzt in Hövelhof. In seiner Zelle hat er einige seiner Zeichnungen aufgehängt, ­daneben Fotos: seine Nichten und Neffen und ein Bild seines Lieblingsbruders, der vor einem Jahr am Alkohol zugrunde ging. Und ein Bild des polnischen Papstes Johannes Paul II. Darunter liegt ein Gebetbuch, auf dem er einen Rosenkranz arrangiert hat.

Lukas R. hat Glück. Seine Familie hat zu ihm gestanden. Jetzt hat er noch zwölf Monate Gefängnis vor sich. „Das macht mir gar nichts. Denn es geht mir hier sehr gut, weil ich keinen Tag mehr verschenke. Ich zeichne viel, schreibe meine Gedanken auf. Ich habe mich noch nie so intensiv mit meinem Leben beschäftigt.“

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