Es ist ein sehr schlichtes Kreuz, das da im Gerichtssaal des Münchner Oberlandesgerichts hängt, dunkel, schmucklos, vielleicht 40 Zentimeter hoch. Seitlich an der Wand, die meisten Zuschauer beachten es gar nicht. Und dennoch hat dieses Kreuz eine seltsame Kraft entfaltet. Die Kraft der Irritation.
Im Saal A 101 schreitet seit fast zwei Jahren der Prozess gegen den rechtsextremistischen Nationalsozialistischen Untergrund, kurz: NSU, voran. Es treten auf: selbstgewisse Polizisten, rechtsradikale Zeugen, schweigende Angeklagte. Ganz vorn sitzt Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, neben ihr in der gleichen Bank, André E., ein über und über tätowierter Neonazi, der dem NSU bis zuletzt die Treue gehalten hat. Auf seinem Handrücken hat er im letzten Sommer einen Totenkopf einstechen lassen, auf seinem Bauch steht: „Die, Jew, Die“ (Stirb, Jude, stirb). Ein christliches Kreuz ist für einen wie ihn keine Mahnung. Auch keine Provokation. André E. lässt alles an sich abtropfen.
Adnan Menderes Erdal geht es anders. Der Anwalt aus Hannover vertritt die Familie eines der Opfer des NSU. Und er hat gleich zu Anfang des Prozesses den Antrag gestellt, das Kreuz abzunehmen – damit sich sein Mandant nicht ausgeschlossen fühlt. Seine Argumente sind nicht abwegig: Das Kreuz erwecke bei seinem Mandanten den Eindruck, dass nur Mitglieder christlicher Religionsgemeinschaften unter dem besonderen Schutz des Gerichts stünden, denn Symbole des muslimischen Glaubens seien im Gericht nicht angebracht.
Erdal stellte die Frage nach der richterlichen Neutralität gegenüber Menschen mit anderem Glauben und forderte: Der Sitzungssaal sollte während des NSU-Verfahrens frei von weltanschaulicher oder religiöser Symbolik sein. Der Aufschrei war groß. Und kurz. Denn Barbara John, die Beauftragte für die Opfer der NSU-Mordserie, traf in der Kantine des Oberlandesgerichts auf Erdal und besprach „bei einer bayerischen Schrippe“ (O-Ton John), die Auswirkungen eines solchen Antrags. Denn bei ihr waren innerhalb kürzester Zeit Dutzende von Mails und Anrufe eingegangen. Alle mit dem Tenor: Die Türken wollen uns unser Kreuz wegnehmen. Gleichzeitig forderten türkische Abgeordnete, die den Prozess besucht hatten, vehement die Abnahme des Kreuzes – in weniger durchdachten Worten als Anwalt Erdal. Und sie trafen einen Nerv.
Das Kreuz im öffentlichen Raum ist in Bayern nämlich vor allem von der Tradition geprägt. Schon das Bundesverfassungsgericht hatte 1995 mit seinem Kruzifix-Urteil für einen Sturm der Entrüstung gesorgt. Es hatte entschieden, dass in bayerischen Klassenzimmern das Kreuz abgehängt werden muss, wenn einzelne Kinder oder deren Eltern das wünschen. Negative Religionsfreiheit heißt das – die Freiheit, Symbole anderer Religionen abzulehnen. Das könnte auch für bayerische Gerichtssäle gelten, wo ebenfalls – wie in den Klassenzimmern – das Kreuz hängt. Allerdings nicht vorne über dem Richtertisch, wie das mit den Bildnissen des SED-Partei- und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der DDR gewesen war. Was zeigte, dass sich die DDR-Justiz in erster Linie dem Einheitsstaat verpflichtet fühlte.
So weit geht es in Bayern nicht, aber das Kreuz ist doch deutlich sichtbar. Und wenn Besucher muslimischen Glaubens es erblicken, dann wirken sie zunächst irritiert. Rechtsanwalt Erdal hat seinen Antrag dennoch nach kurzer Zeit zurückgenommen. Die Familien der Opfer hatten so lange darauf gewartet, dass endlich der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder ihrer Kinder, Väter, Brüder, Ehemänner eröffnet wird. Jetzt sollte dieser Beginn nicht mit dem Streit um einen Nebenkriegsschauplatz belastet werden. Selbst fromme türkischstämmige Familien, so sagt Barbara John, wollten nicht über Christentum oder Islam diskutieren, sondern über den Mord an ihren Angehörigen. „Herr Erdal ist ein kluger Mann“, sagt John. „Er hat das verstanden.“ Verstanden, dass es Wichtigeres gibt, als sich über Religion zu streiten. Und dass die Suche nach der Wahrheit im Idealfall nichts mit Weltanschauung zu tun hat.