Im Main-Taunus-Zentrum, einer Einkaufsmeile am Stadtrand von Frankfurt, sind am Sonntagmorgen die Kaufhäuser geschlossen. Vor dem Kinocenter stehen jüngere Leute in Jeans und Rock, Parka oder Jackett herum, als warteten sie auf die erste Vorstellung. Die hintere Tür zu Kino 1 steht offen.
Aus dem großen halbdunklen Raum hört man die Riffs einer elektrischen Gitarre. Vor der Leinwand geht eine Gruppe von 15 Leuten den Ablaufplan durch, hochkonzentriert, angespannt. Ein Mann in T-Shirt und Cordhose spricht ein Gebet in den Raum, bittet, dass Gott ihnen Kraft geben und den Gottesdienst segnen möge.
Niederhöchstadt: Codewort für gelingende Mission in einer unkirchlichen Gegend
Wie ein Coach kurz vorm Spiel feuert Kai Scheunemann, Diplomtheologe und fest angestellter Mitarbeiter der Andreasgemeinde von Niederhöchstadt, die Gruppe an. Er erinnert an ein Ereignis vom letzten Jahr. Mit 1200 Leuten hätten sie gerechnet, die Jahrhunderthalle in Höchst war angemietet, doch nur 24 Leute hätten sich angemeldet, kurz vor dem Ereignis seien es dann plötzlich 600 gewesen, und immer neue seien hinzugekommen. Auch diesmal könnten sie es schaffen, wenn sie alles dransetzten.
Der Erfolg zählt, und der wird hier in Zahlen gemessen. Besucherzahlen, die man in anderen Gemeinden nicht an die große Glocke hängt, werden munter ausposaunt. Erfasst der Kampf um Quote auch die Gemeinden? Oder dienen dem Coach die Zahlen, um sein Team, die Leute vom Frankfurter Stadtrand, die heute als Musiker, Moderatoren, Regieassistenten und Gottesdienstmacher fungieren, vor der Versammlung aufzubauen?
Es klingt wie eine Legende: Am nördlichen Stadtrand von Frankfurt im Eschborner Stadtteil Niederhöchstadt gibt es eine evangelische Gemeinde, die wächst und wächst. "Niederhöchstadt" ist in anderen Gemeinden längst ein Codewort dafür, dass es in einer ganz und gar unkirchlichen Weltgegend gelingen kann, Leute für den Glauben zu begeistern. Weder erhabene Architektur noch kirchenmusikalische Highlights ziehen die Menschen in den Pendlerort. Reich ist die Gemeinde an Mitarbeitern, an Leuten, die anderswo Ehrenamtliche oder Laien genannt werden. Knapp 300 seien es, heißt es auf der Homepage der Andreasgemeinde.
"Es ist so anders, als man's kennt. Nicht so langweilig"
Seit Pfarrer Klaus Douglass im Sommer 1989 in die Gemeinde kam, hat sie so zugelegt, dass das unscheinbare, in einer Neubausiedlung gelegene Gemeindezentrum für manche Veranstaltungen zu klein wurde. Statt der üblichen 30 bis 60 Besucher finden sich sonntags inzwischen 300, manchmal auch1000 Besucher zu den Gottesdiensten ein. Mit dem "GoSpecial", einem Gottesdienst für Kirchendistanzierte, der an jedem zweiten Sonntag im Monat stattfindet, ist die Andreasgemeinde in das Kinopolis des Einkaufszentrums ausgewichen.
Im Foyer drängeln sich die Leute. Einige Jugendliche geben sich als Konfirmanden aus dem Umland zu erkennen, die mit ihren Pfarrern einen Sonntagsausflug unternehmen. Sie seien hergefahren, um sich das anzusehen, sagt ein Konfirmand aus Mörfelden-Walldorf. Die Pfarrerin wolle, dass sie später mal in der eigenen Gemeinde einen Gottesdienst mitgestalteten. Ausflug zum GoSpecial, um sich bei den Nachbarn etwas abzugucken.
"Es ist so anders, als man's kennt. Nicht so langweilig", sagt Leoni, 17. "Ich kann meine Freunde mit hernehmen. Sie finden das nicht so abschreckend. Hier versteht man die Predigt, auch wenn man nicht Theologie studiert. Den Leuten nimmt man ab, dass sie glauben." Die Schülerin mit den blonden Haaren kommt aus Sulzbach, wechselte aber zur Andreasgemeinde.
Vor dreieinhalb Jahren ist Leoni durch ihre Mutter auf Niederhöchstadt aufmerksam geworden. Die Mutter war zu Hause ausgezogen, hatte sich in der Zeit der Trennung von ihrem Mann der Gemeinde angeschlossen und die Tochter gedrängt, an einer Gemeindefreizeit teilzunehmen. Heute ist Leoni Sängerin bei Gis moll 7, einer von sechs Gemeindebands, die "weltliche Songs und ein Repertoire an Lobpreisliedern" einüben. Nach ihren Auftritten gefragt, korrigiert sie prompt: "Das sind keine Auftritte. Das ist mein Beitrag zum Gottesdienst."
Talentsuche mit der Traumjobbörse
Trotzdem: Dass Menschen Gott begegnen können und sich selbst, ist das große Versprechen und das Erfolgsgeheimnis der Andreasgemeinde. "Entdecke dich und dein Potenzial", heißt es in der Einladung zu "Glaubenskurs 3". Hört sich an wie ein Angebot, mit sich selber besser zurechtzukommen, verborgene Talente zu entdecken und präsentieren zu lernen.
Wie eine persönliche Beratungsagentur hat die Gemeinde Talentförderung, Coaching und eine "Traumjobbörse" im Programm, bei der man sich um Freiwilligenjobs in einem der vielen Teams der Gemeinde bewerben kann. Fürs "Tontechnikteam" zum Beispiel braucht man nicht mehr als "zwei Ohren am richtigen Fleck", das Team verspricht, einem das Nötige beizubringen.
Man könnte sagen, dass die Andreasgemeinde das Gebot, Gott, sich selbst und den Nächsten zu lieben, in Talentsuche und -förderung übersetzt. So heißt es im Wertekatalog der Gemeinde: Ein erfülltes Leben habe, wer seine Gaben "dienend in der Gemeinde und in der Welt einsetzt. Darum bieten wir Hilfen an, dass jeder bei uns seine Gaben entdecken, fördern und ausüben kann." Etwa als Mitglied des Begrüßungsteams beim GoSpecial-Gottesdienst. An der Eingangstür stehen Mitarbeiter, die Besucher freundlich empfangen. Eine ältere Frau hält allen Eintretenden einen Teller mit Gummibärchen hin. Das Team schätzt die heutige Besucherzahl auf rund 500. Ein Platz ist kaum mehr zu bekommen.
Die "Mampfgruppe" beginnt morgens um sechs mit Kaffeekochen
Wie bei einer Unterhaltungssendung im Fernsehen führt ein Moderatorenpaar der Coach von vorhin und Xenia Wenzel, eine Grundschullehrerin mit geröteten Wangen und langen gelockten Haaren durch die Veranstaltung. "Genießen Sie die nächsten 80 Minuten", wünscht Kai Scheunemann. Das Publikum lehnt sich im Dunkeln in die Sessel zurück, die Show kann beginnen.
Auf der Leinwand erscheint Meg Ryan in einer Szene aus dem Film "When a Man Loves a Woman", nach außen Vorzeigeehefrau eines Piloten und treu sorgende Mutter, tatsächlich eine alkoholabhängige Frau kurz vor dem Zusammenbruch, die Szene führt mitten in das Thema des Morgens: "Einer geht noch rein...", Probleme mit Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Rasch wechseln sich Filmszene und Musik ab, die Band spielt "Devil in the Bottle", überlebensgroß erscheinen die Musiker auf der Leinwand.
Wirklich alles ist Teamwork! Beteiligt sind die Band, Regie-, Tontechnik- und Beamerteam, die "Mampfgruppe", die schon morgens um sechs mit Kaffeekochen beginnt, dazu ein Team, das Themen für die Gottesdienste erarbeitet und per Umfrage angesagte Themen ermittelt. Nebenan startet gerade ein neues, das "KiGo-Team", das einen Kindergottesdienst im Kino anbietet.
Inzwischen interviewen die Moderatoren ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker, einen Mann mit tiefen Gesichtslinien, in Lederjacke und Cowboystiefeln, der das Publikum durch seine ehrliche Art überrascht, indem er Sätze hinschleudert wie: "Ich weiß net, ob ich glaub. Als Kind musst ich zwangsweis in die Kerch, da wird mer devon geheilt."
"Die Orgelmusik in unserer Kirche ist besser."
Erneuter Szenenwechsel: Der Bandleader hält eine mit Comedyelementen gespickte Ansprache, beginnt bei Alkoholproblemen und landet bei Jesus und "wild water walking", genauer: bei der Geschichte von der Stillung des Sturmes. Unterhaltung schön und gut, aber was hat das mit Gottesdienst zu tun?
In diesem Moment kündigt der Moderator die nächsten Minuten als Zeit an, "Gott zu begegnen". Zuschauer können ihre Gebetsanliegen auf Zettel schreiben und Fragen an die Fachkundigen, den trockenen Alkoholiker und die Moderatoren, notieren.
Wodurch vollzieht sich die atmosphärische Veränderung? Sind es die Fürbitten? Ist es das "Kreuzverhör", bei dem die Zuhörer eine spontane Antwort auf ihre Fragen bekommen? Sind es die schlichten Lobpreislieder, das Vaterunser oder der gemeinsam gesungene Segen? Aus Zuschauern in Kinosesseln scheinen für ein paar Minuten andächtige Gottesdienstteilnehmer zu werden.
Im Foyer sprudeln die Konfirmanden aus Mörfelden-Walldorf: "Spannend" fanden sie den Gottesdienst im Kino. Besonders gefielen ihnen Fürbitten, Kreuzverhör und "für ne Kirche" auch die Musik. Alle nicken, nur Cem, Konfirmand türkischer Herkunft, widerspricht: "Die Orgelmusik in unserer Kirche ist besser."
Und doch, am GoSpecial scheiden sich die Geister. Während die Mampfgruppe im Gemeindezentrum, 15 Autominuten vom Kino entfernt, noch das Essen für das Gottesdienstteam und zahlreiche Gäste zubereitet, kommt es nebenan im Gruppenraum zu einem scharfen Wortwechsel zwischen Gemeindeprediger Kai Scheunemann und Paulus Terwitte, einem katholischen Priester und Kapuzinermönch (als Bruder Paulus durch seine früheren Internetkommentare zur Bildzeitung bekannt).
"Etikettenschwindel!"
Bruder Paulus: Das war kein Gottesdienst, das war eine Kinoveranstaltung mit Vaterunser! Das ist Etikettenschwindel.
Kai Scheunemann: Für Leute, die kirchlich vorbelastet sind, ist es kein Gottesdienst. Uns ist es eigentlich nicht wichtig, wie man das nennt. Es ist ein Raum, wo man Gott begegnen kann.
Paulus: Nein, das ist nicht okay. Es reicht nicht, wenn jemand sagt: In dem Gottesdienst fühl ich mich wohl. Soll das alles sein, was unser Meister will?
Scheunemann: Mir ist wichtig, die Menschen näher zu Gott zu bringen. Jesus hat die Leute bei ihren Sorgen, bei ihren Krankheiten angesprochen, nicht gleich die Hammerpredigt ausgepackt. Wir fangen bei den Bedürfnissen der Menschen an, wir sind sehr jesuanisch. Der GoSpecial ist eingebunden in andere Veranstaltungen und in die Gottesdienste der Gemeinde.
Paulus: Mir fehlt die Einbindung in die kirchliche Gemeinschaft, die Lesung aus den Evangelien und der Ausweis des berechtigten Zeugen, des Priesters!
Nach katholischer Lehre dürfen nur geweihte Priester die Messe zelebrieren. Das ist in einer evangelischen Kirche ohnehin anders. Aber Paulus Terwitte ist ja hier, um zu lernen. "Uns fehlen in der Kirche die Veranstaltungen für Leute, denen Kirche fremd ist."
Draußen ist es ganz still, ein verschlafener Pendlerort am Stadtrand von Frankfurt
Um zu verstehen, was Menschen in die Andreasgemeinde zieht, müsste der Pater Mitarbeiter wie die Grundschullehrerin Xenia Wenzel, 29, oder die Fernsehreporterin Alrun Kopelke, 36, fragen. Noch glühend vom heutigen Einsatz erzählt Wenzel, dass sie einst mit einer Gruppe der katholischen Gemeinde Bad Soden den GoSpecial besuchte. Die Katholikin kam wieder, und die Niederhöchstädter boten ihr die Mitarbeit in der Regie des GoSpecial an. "Wahnsinn, die trauen mir das zu!", habe sie innerlich gejubelt und den Einstieg in ein neues, offeneres Glaubensleben gefunden.
"Hey, die sind alle Christen und haben Spaß dabei", beschreibt Alrun Kopelke ihren ersten Eindruck. Als "streng und bedrückend" hatte die Reporterin mit rosa Häkelschal und funkelnden Ohrringen den Glauben in ihrer Kindheit erlebt und beschlossen, dass "ich diesen Gott nicht in meiner Nähe haben will". Mit Anfang 30 machte sie sich wieder auf die Suche, entdeckte den GoSpecial und war froh, "dass man hier rumspinnen kann und frech sein darf". Sie schließt sich dem Theaterteam an. Hier fühlt sie sich auch mit Themen "gut aufgehoben", die sie gerade umtreiben: zurzeit das Singledasein.
Was in den Hauskreisen und Teams, Bands und Gruppen geschieht, gestalten die Mitglieder weitgehend selbstständig, organisatorisches Chaos inbegriffen, wie man sich erzählt. Zusätzlich verfügt die Gemeinde über mehr hauptamtliche Mitarbeiter als üblich. Möglich macht es der "Gemeindeaufbauverein", der derzeit so viel Geld zusammenbringt, dass sechs zusätzliche Mitarbeiter angestellt werden können, einige davon in Teilzeit.
Im Gottesdienstraum schließt ein Mitglied des Technikteams die Anlage für den Abendgottesdienst an, die Stühle sind bereits in Kreisform gestellt, etwa 20 durch Meditationsbänkchen ersetzt, im Flur spielen Jugendliche Tischhockey, das GoSpecial-Team trinkt mit seinen Gästen Kaffee. Draußen ist es ganz still, ein verschlafener Pendlerort am Stadtrand von Frankfurt.