Die evangelische Kirche denkt über ihre Zukunft nach. Ihre Spitze diskutiert über Strukturen und Prozesse. Das ist wichtig und unausweichlich. Ohne einen tief greifenden Bewusstseinswandel werden jedoch selbst die besten Konzepte nicht mehr sein als Stückwerk
Lena Uphoff
07.10.2010

Es geht um die Zukunft der evangelischen Kirche, wenn sich vom 25. bis zum 27. Januar 2007 in der Lutherstadt Wittenberg die leitenden Männer und Frauen aus allen Landeskirchen zu einem Kongress versammeln. Zusätzlich eingeladen hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 120 Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen, von denen sich die Führung der EKD Anregungen und Ratschläge für die Weiterentwicklung ihrer Strukturen und ihres Profils erhofft.

Mit großem Ernst werden die circa 300 Menschen in Wittenberg, dem historischen Ausgangspunkt der Reformation vor fast 500 Jahren, über den nötigen Reformprozess, seinen sozialen Rahmen sowie über Kommunikation und Profilbildung Referate hören und diskutieren. Das Schicksal des Protestantismus in Deutschland oder gar des Christentums in Mitteleuropa wird sich während dieses Kongresses ebenso wenig entscheiden wie das des deutschen Fußballs beim nächsten Kongress des DFB.

"Entscheidend is aufm Platz."

So hat der legendäre Ruhrpott-Trainer Adi Preißler einmal alle Diskussionen über Taktik und Mannschaftsaufstellung vor einem wichtigen Spiel seiner Elf beendet. Entscheidend ­ für die Kirche ­ ist in den Gemeinden. Denn nichts anderes ist die Kirche als die Gemeinde der Gemeinden: die Gemeinschaft der Heiligen, die Bewegung Jesu Christi, die Freundinnen und Freunde der Liebe. Ob es gelingt, dass sich Menschen nicht länger als Kunden für Taufen und Hochzeitsrituale, für Kranken-, Obdachlosen-, Manager- und sonstige Seelsorge ansehen oder als mehr oder minder bereitwillige Kirchensteuerzahler, sondern als Teil einer Gemeinschaft: allein daran wird sich die Zukunft der evangelischen Kirche entscheiden.

Warum sind Anziehungskraft und Bindewirkung der Kirche quer durch die Milieus so gering geworden? In meinem bunten Freundeskreis wird diese Frage immer wieder gestellt. Unter meinen Freunden finden sich Christen der großen Konfessionen, Freikirchler, gewesene Kirchenmitglieder, die sich immer noch als Gläubige bezeichnen, Ausgetretene, die sich selbst Agnostiker oder Atheisten nennen, und nicht zuletzt einige, die genau dies über Jahre und Jahrzehnte behauptet haben, inzwischen aber in eine Kirche zurückgekehrt sind.

Unter diesen Leuten gibt es eigentlich niemanden, der keine Meinung über die Kirche hat. Die Mehrheit ­ auch der Mitglieder und Beitragszahler ­ hat meinem Eindruck nach eher eine schlechte. Verteidigt wird die Kirche häufiger von den Rückkehrern als von den dort ehrenamtlich Engagierten. Überwältigend, ja einhellig positiv fallen jedoch die Urteile über die Substanz, die Kernaussagen des Christentums und über die Person des Jesus von Nazareth aus.

Die Debatten in meinem Freundeskreis sind möglicherweise nicht repräsentativ. Wenn es um die Frage geht, warum den Kirchen die Mitglieder weglaufen, kramen viele von uns Erinnerungen an miserable Predigten, missglückte Seelsorge oder langweilige Gottesdienste hervor. Wir packen soziologische Daten auf den Tisch, zitieren Studien und Leitartikel. Wir fragen uns, warum so viele Frauen auf den esoterischen Trip gehen oder warum sich der Buddhismus grassierender Beliebtheit bei Bürgersöhnen und -töchtern erfreut.

Nach all diesen Diskussionen

bin ich inzwischen davon überzeugt, dass es ziemlich egal ist, wie die Strukturen der Kirche aussehen, wie viel Geld sie hat, ob eine Pastorin gut drauf ist oder nicht und ob der Kirchenraum zugig, feucht oder überheizt ist. Und es ist auch ziemlich nebensächlich, ob in jedem Dorf eine Pfarrstelle und ein Gottesdienstraum vorhanden sind ­ wenn die Menschen wirklich wohin wollen, nehmen sie auch weitere Wege in Kauf.

Wenn ich meine Freundinnen und Freunde richtig verstehe, dann suchen sie eine Kirche, die ihnen ein seelisches Zuhause bietet, die sie aufnimmt und ernst nimmt, wie sie sind, die sie liebt. Und da die Kirche aus den getauften Christen besteht, hängt es von denen, also von uns ab, ob wir diese Haltung leben. Das ist keine Frage von Traktaten und Papieren, von Inszenierungen und modernen Methoden, sondern von Einstellung und Ausstrahlung.

Einer meiner Freunde, ein Alt-68er, der nach mehr als dreißig Jahren wieder zum Glauben seiner Kindheit zurückgefunden hat, gab mir neulich einen der wichtigsten Hinweise. Er zitierte seinen Konfirmationsspruch aus dem Korintherbrief des Apostels Paulus: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle." Es geht um die Liebe, ohne die alles nichts ist. Knapp zwanzig Zeilen lang ist das 13. Kapitel des Briefs, in dem der klassisch gebildete Jude und römische Bürger das Herzstück des Christseins formuliert:

"Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe

und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles."

Wem das noch nicht reicht als Maßstab für die Erneuerung der Christenheit, der kann auch die Evangelien aufschlagen. Dort finden sich die Gleichnisse und Hinweise, in denen Jesus selbst auch seiner heutigen Kerngemeinde erklärt, wie sie sich in seinem Sinne zu verhalten hat. Im Johannesevangelium wird Jesus mit dem Rat an seine Jünger zitiert: Daran wird jeder erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr euch untereinander liebt.

Im Lukasevangelium steht das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der seiner Familie den Rücken gekehrt hatte. Sie lässt sich leicht als die Beschreibung jener lesen, die sich von ihrer Tradition, von ihrer Kirche, vom Glauben ihrer Kindheit vollständig distanziert haben und nun als Sinnsucher durch die Welt wandern.

Der Vater tadelt und beschimpft den Heimkehrenden nicht, er fällt ihm um den Hals, küsst ihn und organisiert ein riesiges Fest: "Lasset uns essen und fröhlich sein!" Das ärgert seinen anderen Sohn, der ihm stets die Treue gehalten hatte und der ihn anraunzt: "Ich habe nie dein Gebot übertreten, und du hast nie einen Bock für mich schlachten und braten lassen, damit ich mit meinen Freunden hätte feiern können. Nun aber ist mein Bruder zurückgekommen, der sein Gut mit Huren verprasst hat, und du hast ihm ein gemästetes Kalb geschlachtet!" Der Vater hört sich das an und antwortet: "Mein Sohn, wir waren doch immer zusammen, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein, denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden."

Dieser Bruder repräsentiert den harten Kern der Kirche. Die zwanzig oder dreißig Gemeindeglieder, die vielerorts den Betrieb aufrechterhalten und den Hinzukommenden ­ wenn sie die fremden Neuen überhaupt zur Kenntnis nehmen ­ gerne erklären, sie sollten sich erst mal hinten anstellen und sich in die herrschenden Bräuche einüben, bevor sie mitreden wollten.

Der Pfarrersohn Friedrich Nietzsche muss einiges miterlebt haben,

bevor er zum zornigen Gegner der Kirche wurde: "Die Christen müssten mir erlöster aussehen. Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne." Erlöst aussehen kann man nicht, man muss es schon irgendwo sein, wenn man tatsächlich herzlich und freundlich sein will.

Außerdem sollten sich die Gläubigen auf ihren Glauben nichts einbilden. Für den Pharisäer, der Gott dafür dankt, "dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte Eheberecher", hat Jesus folgende Mitteilung parat: "Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden." Es ist schwierig, demütig zu sein, ohne den Ehrgeiz, sich von niemandem in Demut übertreffen zu lassen.

An einem Adventssonntag, bei einem Gläschen Glühwein und Weihnachtsbäckerei, sprachen wir über Reinhard Mey. Dabei kamen wir auf sein Lied "Gute Nacht, Freunde". Wir waren uns rasch einig, dass Mey ziemlich genau beschreibt, wie eine Gemeinde auf ihre Umgebung wirken sollte.

Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu gehn.
Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehn.
Für den Tag, für die Nacht unter eurem Dach habt Dank,
für den Platz an eurem Tisch, für jedes Glas, das ich trank,
für den Teller, den ihr mir zu den euren stellt,
als sei selbstverständlicher nichts auf der Welt.

Habt Dank für die Zeit, die ich mit euch verplaudert hab,
und für eure Geduld, wenn's mehr als eine Meinung gab.
Dafür, dass ihr nie fragt, wann ich komm oder geh,
für die stets offene Tür, in der ich jetzt steh.
Für die Freiheit, die als steter Gast bei euch wohnt.

Habt Dank, dass ihr nie fragt, was es bringt, ob es lohnt.
Vielleicht liegt es daran, dass man von draußen meint,
dass in euren Fenstern das Licht wärmer scheint.

Fürchten wir uns nicht davor, die Türen zu öffnen,

weil die anderen tatsächlich reinkommen und sich selbst mitbringen könnten, in ihrer ganzen Andersartigkeit, mit ihren Erfahrungen? Wäre es vorstellbar, dass wir einen ehemaligen Stasi-Offizier zum Chef der Missionsarbeit machen? So ähnlich haben es die Apostel mit dem bekannten Christenverfolger Saulus gemacht. Dass das nicht so leicht war, ist auch zu lesen. Die Jünger haben heftig gestritten, ob man dem Kerl nach seiner Konversion wirklich trauen könne. Und die Traditionalisten haben gemeckert: Das sei doch einer, der den Herrn Jesus gar nicht persönlich gekannt habe. Nun, in dieser Hinsicht dürften wir weniger Probleme haben.

Letztlich ist es ein großer Selbstversuch, ob die Botschaft der befreienden Liebe Gottes durch Jesus Christus in der Gemeinschaft der Glaubenden funktioniert. Wenn wir sie wirklich für alternativlos überzeugend halten, dann müssen wir auch darauf bauen, dass sie ansteckend wirkt. Sonst sind alle unsere Reden und Kongresse tönend Erz und klingende Schellen. In diesem Sinne: Lasst das Licht wärmer scheinen!

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