###autor###Der September fängt in Tallinn oft sonnig an. Morgens ist es ziemlich kühl, mitunter gibt es Raureif. Die Luft riecht nach Laub und nach dem Holzrauch der Ofenheizungen in den Vororten. Die Straßen sind plötzlich wieder voller Autos. Den Sommer verbringen hier alle auf dem Lande, und die Stadt wirkt zeitweise wie ausgestorben. Nur die Altstadt füllt sich weiterhin mit Tausenden von Touristen.
In den ersten Septembertagen sieht es dann plötzlich fast aus wie bei einem Staatsbesuch. An jedem Straßenübergang passen dann Polizisten in neongelben Westen auf – aber eben nicht wegen Staatsbesuchs, sondern wegen der Schulkinder.
Wenigstens an diesem Tage wird öffentlich dargestellt, wie wichtig Bildung für Gesellschaft und Nation ist
Sie tragen Westen und Pullover mit dem Wappen ihrer Schule und „Deckel“, also Mützen mit Kappen, wie man sie in Deutschland nur von Studentenverbindungen kennt. Feierlich gekleidet treffen sich Lehrer, Schüler und Eltern zum
„Aktus“ in der Aula. Die Nationalhymne wird gesungen, es folgen Reden und Musikvorführungen, schließlich gibt es Blumen für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Lehrer verdient hier nur 700 bis 900 Euro netto – bei Preisen, die den durchschnittlichen europäischen gleichen. Wenigstens an diesem Tage werden sie geehrt, wird öffentlich dargestellt, wie wichtig die Bildung für Gesellschaft und Nation ist. Nach dem Aktus feiern die Familien zu Hause. Vom Kindergarten bis zur Uni zelebriert man so im ganzen Land den Beginn des neuen Schuljahrs.
Außerdem werden nun die Tage wieder kürzer. Ab Mitte Oktober ist es zu kalt für den Deckel, man greift auf die Wollmütze zurück. Erst ab Ende April kommen die Deckel zurück auf die Köpfe – und mit ihnen kommt die Vorfreude auf den Schuljahrsabschluss im Juni. Der wird natürlich auch mit einem Aktus gefeiert, und mit vielen Frühlingsblumen für die Lehrer.