Am Krankenbett
Als ihr Vater den Freiwilligendienst ausrief, wusste Erika Geiger: Das will ich machen! Sie war eine der ersten Frauen, die sich für ein diakonisches Jahr meldeten. Ein Rückblick
Fast 60 Jahre ist es her. Erika Geiger erinnert sich noch genau an die Pein, die sie verspürte, als sie am ersten Tag ihres diakonischen Jahres im Speisesaal der Klinik Hallerwiese in Nürnberg in ihre trockene Schrippe biss. Es war still im Saal. Nur Geiger kaute. Den Kopf gesenkt, das Gesicht hochrot. Sie saß morgens um sechs mit den anderen Schwestern am u-förmigen Tisch und hatte das Gefühl, dass alle sie anstarrten. Kurz schaute sie auf, um zu sehen, ob sie wirklich die Einzige war, die noch aß. Aber die anderen Teller waren leer. Kein Krümel zu sehen. Wie hatten die Schwestern es geschafft, das Brötchen so schnell zu verdrücken?
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Geiger würgte die Schrippe herunter, auch wenn sie ihr nicht schmeckte. Erst als sie fertig war, entließ Oberschwester Leni die Schwestern auf die Krankenstationen. Geiger lief mit, den Blick weiter auf den Boden gerichtet. Irgendwas war faul, das spürte sie. Auf der Krankenstation angekommen, fasste sie Mut und fragte: Wie habt ihr so schnell gegessen? Da lachten die Schwestern und zogen die Brötchen aus ihren Schürzen. Im Kühlschrank lagerten Butter und Marmelade. Sie frühstückten erst auf der Station.
„Ich wusste sofort, dass ich das machen möchte“
Ihr Vater, Hermann Dietzfelbinger, der damals die Diakonie Neuendettelsau leitete und später bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland wurde, rief das diakonische Jahr vor sechzig Jahren ins Leben. Da war Erika Geiger gerade mal 17 Jahre alt. Bei der Hundertjahrfeier der Diakonie Neuendettelsau stand Geiger neben ihrer Mutter und ihrem Bruder zwischen den Feiernden in der St.-Laurentius-Kirche und hörte über Lautsprecher der Rede ihres Vaters zu. Niemand ahnte, was Dietzfelbinger in seinem Vortrag „Wagnis der Diakonie“ gleich verkünden würde. Nicht einmal seine Tochter.
Hermann Dietzfelbinger sagte: „Überall warten Menschen darauf, dass Menschenhände ihnen den Dienst der Liebe tun. Ihr jungen gesunden Menschen von 18 Jahren, gebt ein Jahr eures Lebens zum Dienst für sie!“ Das diakonische Jahr, so Dietzfelbinger, werde die jungen Menschen ausbilden im „Dienen, Beten, Leiden und Mittragen“. Erika Geiger stellte ihrem Vater noch am selben Abend viele Fragen: Wer kann das machen? Welche Einrichtungen kommen infrage? Kann man wirklich helfen? Was trauen die einem wohl zu? Sie fragte nicht ohne Hintergedanken. „Ich wusste sofort, dass ich das machen möchte“, sagt Erika Geiger.
Einige von Dietzfelbingers Kollegen waren skeptisch: „Du hast in deinem Aufruf ja nicht mal die soziale Sicherung geklärt. Wie können wir garantieren, dass die Frauen ihren Arbeitsplatz behalten, wenn sie ein Jahr aussetzen?“ Probleme wie diese lösten sich ganz von selbst. Der Chef der ersten Industriearbeiterinnen, die das diakonische Jahr machen wollten, versprach ihnen, den Arbeitsplatz frei zu halten.
Ihr Tag begann morgens um sechs Uhr mit dem Frühstück und endete abends um acht Uhr. „Damals gab es im Krankenhaus nur eine Schicht, das war schon hart“, sagt sie. Einen Nachmittag in der Woche hatte sie frei und jede zweite Woche den Sonntag. In der zweistündigen Mittagspause saß sie oft im Garten und las Bücher, abends war sie dafür zu müde. Das Zimmer im Schwesternhaus, Sozialversicherung und Arbeitskleidung waren kostenlos. Von den 40 Mark, die sie im Monat verdiente, ging sie manchmal ein Eis essen oder ins Kino. „Das war nicht viel, aber ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich mehr brauche“, sagt Geiger.
Sie arbeitete in der Küche und auf der Station. Sie versorgte Patienten, sprang auf, wenn die Notfallglocke läutete. An eine Patientin erinnert sie sich noch ganz genau. Sie klingelte an einem Tag sieben Mal. „Der ist immer was eingefallen: dass die Kissen nicht richtig liegen, dass es irgendwo wehtue, dass sie einen Schluck trinken wolle. Ich hab mir dann vorgenommen, sie beim nächsten Läuten zurechtzuweisen“, sagt Geiger. Aber als sie das Zimmer betrat, sagte die Frau: „Sie sind so eine idealistische Krankenschwester. Nie schimpfen Sie mit mir, obwohl ich so oft läute.“ „Ich hab dann nichts gesagt. Im Grunde genommen wollte die Frau nur nicht alleine sein.“
"Ich war richtig stolz, dass ich den Patienten etwas gegen die Schmerzen geben durfte“
„In dem Jahr habe ich viel über Menschen gelernt“, sagt sie. Die Kranken, die aus allen Schichten kamen, erzählten ihr viel. Auf Erika Geigers Station lagen Menschen mit Nierenleiden, dicken Mandeln, Krebskranke. „Ich hab im Krankenhaus die ersten Erfahrungen mit dem Tod gemacht“, sagt Erika Geiger.
Ein Fall war besonders schlimm. Als sie mit einer anderen Schwester abends einen Patienten auf den Nachtstuhl heben wollte, jammerte dieser, dass er nicht könne und dass es ihm schlechtgehe. Das muss jetzt sein, sagte die Schwester, und so hoben sie ihn aus dem Bett. Er seufzte und stöhnte. Kurz nachdem er wieder auf der Matratze lag, starb er. „Der Schwester war es im Nachhinein sehr arg, dass es so zu Ende gegangen ist“, sagt Erika Geiger. Auch sie dachte noch lange über diesen Tag nach.
Es gab natürlich auch schöne Momente. Erika Geiger holt ihr Fotoalbum aus dem Regal, legt es auf den Tisch und schlägt eine schwarze Seite auf, überschrieben in weißer Schrift: diakonisches Jahr. Auf einem Foto sieht man Erika Geiger als junge Frau vor geöffnetem Fenster in der Sonne eine Spritze aufziehen. „Das war toll. Ich war richtig stolz, dass ich den Patienten etwas gegen die Schmerzen geben durfte“, sagt Erika Geiger.
Besonders schwer fiel ihr der Abschied. An ihrem letzten Tag stand sie unter den Schwestern und weinte. Viele baten sie zu bleiben, aber Erika Geiger wollte Lehrerin werden. Die Menschenkenntnis, die sie in dem Jahr gewonnen hatte, sollte ihr dabei helfen.
Unter Zwergen
Ole Skripalle wollte nach dem Abitur nicht gleich wieder Prüfungen und Stress. Also entschied er sich für ein Jahr in der Kindertagesstätte. Zu Besuch in der Löwengruppe
Ole Skripalles Erinnerungen an die vergangenen Monate schlummern in zwei dicken Mappen. Kita Kennedy steht darauf. In der einen bewahrt Ole die Gedanken auf, die er sich während seines freiwilligen Jahres gemacht hat. In der anderen stecken Bastelarbeiten und Bilder, die ihm die Kinder geschenkt haben. Auf jedem Kunstwerk hat Ole mit Buntstift den Namen des Kindes und das Datum notiert. Mallak hat Ole am 1. Februar 2014 zwei Herzen gemalt, Emily am 23. Januar 2014 eine Familie.
Für Ole war klar, dass er sich nach dem Abitur erst mal eine Auszeit nimmt. „Ich wollte nicht direkt von der Schule in die Ausbildung, wo ich wieder bewertet werde“, sagt er. Er wollte Zeit zum Nachdenken haben, etwas Neues lernen, und erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sammeln. Bei der Diakonie bewarb er sich für ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ), ohne konkrete Vorstellung, wo es hingehen sollte. Er wusste nur, dass er gerne mit Kindern oder Jugendlichen arbeiten wollte – und dass es irgendwie finanzierbar sein muss. Im FSJ bekommt Ole monatlich 403 Euro, ist sozialversichert und darf kostenlos Seminare besuchen.
Im Spiel lässt er niemanden gewinnen, nur weil er jünger ist
Als Ole die Zusage für die Kita Kennedy hatte, musste er sich den einen oder anderen Spruch von Freunden anhören. „Du willst ernsthaft ein Jahr im Kindergarten spielen?“, fragten sie. Später, als seine Freunde für Studium und Ausbildung büffelten, beneideten sie ihn.
Besonders schön seien die Momente, in denen sich Kinder öffnen,die anfangs schüchtern waren, sagt Ole. Und wenn freche Kinder plötzlich auf ihn hören, vielleicht sogar mehr als auf manche Erzieher. Vielleicht liegt es auch an seiner ehrlichen und manchmal trockenen Art. Streiten sich die Kinder, wer die meisten Bananen gegessen hat, sagt Ole einfach „Ist doch egal“, und die Sache ist gut.
Im Spiel lässt er niemanden gewinnen, nur weil er jünger ist. „Ich fand das als Kind immer doof, wenn meine Eltern nicht ehrlich gespielt haben“, sagt Ole. Kaum ist der Morgenkreis vorüber, verteilt Shilan Memory-Karten vor Ole auf dem Tisch. Innerhalb von zehn Minuten räumt sie gleich zwei Mal ab. Ihre Kartenstapel sind doppelt so hoch wie seine. „Das gibt’s doch nicht“, sagt Ole: „Willst du das nächste Mal alleine spielen?“
Shilan fordert noch eine Runde, aber Ole hat genug und geht mit ein paar Kindern in den Garten. Einige Jungen sausen in Regenhosen mit dem Dreirad durch den Matsch, andere schaukeln und spielen Fangen. „Es kam auch schon mal vor, dass viele krank waren und ich draußen die einzige Aufsicht war. Das war schon viel Verantwortung“, sagt Ole. Er spielt gerne draußen mit den Kindern Fußball. Oder schnappt sich ein Kind und setzt es sich auf die Schultern. Oder er schleudert es als Flugzeug durch die Luft. „Aber darf ein Kind, wollen alle. Manchmal ist das ganz schön anstrengend“, sagt Ole.
„Ole hilft uns wirklich in allen Bereichen“, sagt Barbara Gedun, 30, Erzieherin und Gruppenleiterin der Löwen. Ole hat Dosenwerfen organisiert, mit den Kindern Laternen gebastelt und eine Rakete für den Garten gebaut. „Und er geht oft kicken mit den Jungs“, sagt sie.
Nicht nur die Kita profitiert von Ole, auch er hat viel gelernt. „Ich kann improvisieren und bin geduldiger geworden“, sagt Ole. Er hat erlebt, wie Kinder binnen eines Jahres die deutsche Sprache lernten, wie schwierige Kinder mit der Zeit umgänglicher wurden.
Zum Abschied haben ihm die Kinder zwei Alben geschenkt. Darin sind Fotos von Ole, verkleidet als Fan während der Fußballweltmeisterschaft, draußen im Garten mit Kindern, drinnen mit Duplosteinen. Elijah wünscht Ole, dass er gesund bleibt, Joachim wünscht ihm einen Kuchen mit Schoko, und Amina wünscht Liebe. Was er jetzt werden möchte? Sozialversicherungsangestellter. „Da kann ich viel reden und bin unterwegs“, sagt Ole.
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