Es ist sieben Uhr morgens, ich bin auf dem Rückweg vom Hundespaziergang. Vor unserer Kirche ist schon sauber gefegt, drinnen duftet es nach dem Mittagessen, das Kirchenwächterin Valentyna über Nacht vorbereitet hat. Wir wechseln ein paar Worte im Korridor, da kommt aus dem Inneren der Kirche Wassilij Stepanowitsch auf uns zu. Er ist einer der Verletzten, die seit den Maidan-Protesten hier untergekommen sind. Wir haben eine Art Kirchenlazarett aufgebaut.
Der Familienvater aus der Ostukraine blieb fast drei Monate, weil seine Schusswunde nicht abheilte. Jetzt hat er ein armseliges Bündel im Arm, vielleicht eine Hose, in einen Pullover gewickelt. „So, fertig!“, sagt er. „Dann geh ich mal. Vielen Dank für alles.“ „Wie? Sie gehen endgültig?“, frage ich verwirrt. Ja, er habe sich zum Dienst bei der Nationalgarde gemeldet. „Aber . . .“, stottere ich, „Ihre Wunde, ist die denn jetzt abgeheilt?“ „Nicht so ganz. Aber man sagt, es kommen auch Ärzte dorthin.“ In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß.
Ein paar Tage später verabschiedet sich auch eine Ärztin aus unserem Lazarett zur Nationalgarde. Sie will den Verletzten vor Ort helfen. Vor Ort, das heißt, im Südosten der Republik, wo Separatisten gegen Pro-Ukrainer kämpfen. „Oh Gott, ich möchte meine lieben Leute nicht dort im Kriegsgebiet wissen!“, sage ich zu einer anderen Ärztin. Die antwortet: „Aber was wird, wenn niemand das auf sich nimmt?“
Die Züge aus der Ostukraine sind überfüllt mit Flüchtlingen, so erzählt eine Freundin, die neulich am Kiewer Bahnhof war. Sie stammt aus der umkämpften Region Donbass nahe der russischen Grenze. Ihre Freundinnen dort seien alle schon geflohen, aber ihr Vater wollte nach einem Kiew-Besuch unbedingt wieder nach Hause. Ob er denn keine Angst habe, hatte sie gefragt, Tschetschenienkämpfer seien bereits durch seine Stadt gezogen. „Ach“, war seine Antwort: „Klar sind die durchgekommen und haben herumgeballert. Dann sind sie weitergezogen. Sollen wir deswegen Panik schieben?“ Und so ist er zurückgefahren, mit einem Zug, der mehrmals die Richtung gewechselt hat, wohl um gewaltsamen Konflikten auszuweichen.
Foto: Frank Muckenheim / Visum Creative
Auf dem Maidan ist Ruhe eingekehrt - kein Frieden. Gekämpft wird jetzt woanders. Ein Stimmungsbild aus Kiew
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