Symbolbild Mißbrauch
Anne Schönharting/Ostkreuz
Ihr Vater hat sie vergewaltigt. Da war sie neun. Sie hat ihn angezeigt. Da war sie 23. Vor Gericht scheiterte sie. Aber es war richtig, sich zu wehren
undefinedNicole Malonnek
07.10.2010

Mein Vater war der Star in unserer Familie. Der, der am Kopfende vom Esstisch saß und das größte Stück Fleisch bekam. Ich war sein Liebling und wurde den anderen Geschwistern gegenüber klar bevorzugt. Als ich sechs war, schenkte er mir eine Geige und übte jeden Tag mit mir. Mit Engelsgeduld. Nach jeder Geigenstunde gab es Pommes in der Stadt. "Aber nicht der Mama sagen", das war der Deal. Meine Schwestern und meine Mutter waren so mit ihrer Eifersucht beschäftigt, dass sie nicht mitbekamen, was meinen Vater so eng mit mir verband.

Als ich mich zum ersten mal ausziehen musste, weil er mich streicheln wollte, war ich gerade eingeschult worden

Bei der Vergewaltigung, die er sich wohl zu seinem 41. Geburtstag geschenkt hatte, war ich neun Jahre alt. Ich habe 14 Jahre gebraucht, bis ich ihn angezeigt habe. Ich wollte auch das Letzte, was uns noch verbunden hat, loswerden: unser langjähriges Geheimnis.

Es war nicht einfach, fremden Männern im Gericht zu erzählen, wie sich eine Vergewaltigung anfühlt. In allen Details. Wie mir jeder Schritt wehtat auf dem Weg zur Schule in den Tagen danach. Mir wurden tausend Fragen gestellt, Fangfragen. Alles, was ich sagte, immer wieder neu hinterfragt. Meine Mutter hat mir zum Glück sofort geglaubt und vor Gericht bestätigt, dass mein Vater nachts die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, wenn er nicht mit ihr im Ehebett schlief. Sondern mit mir in seinem Arbeitszimmer auf der aufklappbaren Couch. Sie war so erschüttert, als ich ihr mit Anfang 20 endlich alles erzählte. Enttäuschend war die Reaktion meiner Schwester, die kurz vor Prozessbeginn nicht mehr aussagen wollte. Sie sagte: "Ich glaube dir, aber ich kann mir den Papa nicht hinter Gittern vorstellen." Ich konnte sie einfach nicht umstimmen. Aber ich kann ihr auch nicht verzeihen. Wir haben keinen Kontakt mehr.

Ich habe der Kripo mein Tagebuch gegeben. Die schlimmsten Nächte hatte ich als Kind verschlüsselt notiert, aus Angst, dass er das Buch findet. Ein durchgestrichenes vierblättriges Kleeblatt hinter dem Datum war mein Geheimzeichen für jeden seiner Übergriffe. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass das Gericht die Symbolik nachvollziehen und ernst nehmen würde. Die Statistik sprach gegen mich. Nur 16 Prozent aller Anzeigen wegen sexueller Gewalt in der Kindheit enden mit einer Verurteilung des Täters. Oft wird das Opfer verurteilt. Als Lügnerin, oft auch als psychisch Labile, der man irgendwas eingeredet hat.

Für die Urteilsverkündung im Landgericht hatte sich mein Vater schick gemacht

Sakko, Krawatte, schwarze Hose. Betont souverän. Ein Räuspern vom Richter, und es ging los. "Es tut mir leid, dass Sie das alles durchmachen mussten", sagte der Richter. Aber er schaute nicht mich an, sondern meinen Vater. "Es muss hart sein, wenn die eigene Tochter so was mit einem macht." Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Verkehrte Welt, falscher Film. Meine Gedanken rasten hin und zurück. Ich versuchte, mich an meinem grinsenden Vater vorbei auf die Worte zu konzentrieren. Die ich nicht glauben mochte. "Es existiert ein Graubereich der Überschneidung zwischen Aussagen, die der Zeugin von anderen suggeriert wurden, und bewusst unwahren Aussagen", las der Richter vor. Und: "Die Zeugin hegt massive Ressentiments gegen ihren Vater, mit dem es zum Bruch gekommen ist." Ich war einfach wie gelähmt. "Die Zeugin schildert zu detaillierte und unbedeutende Einzelheiten." Sie hatten mir nicht geglaubt.

Vor meinen Augen tauchte das Tesafilm-Kreuz auf, das ich mit neun Jahren an die Balkonwand vor das Arbeitszimmer meines Vaters geklebt hatte. Es war die Nacht, in der ich dachte, ich sterbe. Ich bekam keine Luft mehr, als mir mein Vater während der Vergewaltigung den Mund zuhielt. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, war alles vorbei. Ich habe ihn gefragt, wann ich es der Mama sagen darf, und er sagte: "Wenn der Opa gestorben ist."

Ein Jahr später zog mein Vater aus. Meine Erinnerungen waren von da an weg. "Selektive Amnesie" heißt das im Fachjargon. Erst kurz nach dem Tod meines Großvaters, 14 Jahre später, war alles wieder da. Da habe ich Anzeige erstattet, weil ich wollte, dass mein Vater bestraft wird. Ich dachte aber auch, dass mir meine Geschwister und einige Tanten und Cousinen erst glauben, wenn der Missbrauch von einer offiziellen Stelle bestätigt wird. Ich wurde von einem Psychologieprofessor stundenlang, über mehrere Tage, befragt. Er versuchte, mich in Widersprüche zu verwickeln, war kritisch, aber fair. Am Ende kam er zu dem Ergebnis, dass Umstände und Inhalte meiner Erinnerungen glaubhaft seien, also, so stand es im Gutachten, mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entsprächen.

Der Verteidiger meines Vaters beantragte daraufhin einen zweiten Psychologen. Die Gespräche waren kurz, die Atmosphäre eisig. "Ach, wissen Sie, meiner Erfahrung nach ist die Gefühlswelt eines Kindes anders strukturiert." - "Sagen Sie, sind Sie eigentlich defloriert, Sie wissen schon, entjungfert - sind Sie da ganz sicher? Hat das mal ein Arzt geprüft?" Ich war erleichtert, als es vorbei war. Meine Anwältin mailte mir später, dass er mir nicht geglaubt hatte. Heute weiß ich, dass er in Fachkreisen umstritten ist, weil er auffallend oft Fremdeinfluss in den Erinnerungen weiblicher Opfer festzustellen meint.

Zwei Glaubwürdigkeitsgutachten: Das erste für mich, das zweite gegen mich

Als der Richter das Urteil vorlas, erwähnte er das Erstgutachten mit keinem Wort. Er stützte sich ausschließlich auf die Deutungen des zweiten Gutachters. Schlimmer hätte es für mich nicht kommen können. Da saßen sie, die älteren Herren - Richter, Zweitgutachter, mein Vater und sein Verteidiger -, eine Männerfront. Und dann legte mir der Richter noch eine Therapie ans Herz. "Zukünftige psychotherapeutische Hilfe beziehungsweise Beratung sollte nach unserer Überzeugung kognitive Umstrukturierungen von Frau M. fördern." Ich sollte umstrukturiert werden. Damit auch ich den Missbrauch nicht mehr glaube. Meinen Vater sprach er frei. Er unterrichtet weiterhin Physik und Mathematik an einem Gymnasium.

Ich konnte nicht mehr ertragen, wie sie es alle besser wussten. Wie sie da saßen und mir ins Gesicht sagten, dass sie mir nicht glaubten. Ich bin aufgestanden und gegangen. Quer durch den Gerichtssaal, an den strafenden Blicken des Richters vorbei. Völlig desillusioniert von einem anderthalb Jahre dauernden Prozess, in dem ich im Namen des Volkes zur Lügnerin erklärt wurde. Ich stand draußen und heulte. Trotzdem war es richtig, mich zu wehren und vor Gericht zu ziehen. Heute, zwei Jahre später, habe ich mein Studium in der Tasche und einen guten Job. Meinen Vater habe ich aus meinen Gedanken radiert. Er existiert einfach nicht mehr in meinem Leben. Nur nachts ist er noch da. Da jagt er mich durch meine Träume und grinst.

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