Symbolbild Haft
Michael Hudler
Ein 58-Jähriger Ladenbesitzer saß fast drei Monate lang unschuldig hinter Gittern. Der Missbrauchsvorwurf war falsch

Vertreter, die unangemeldet zu mir in den Jeansladen kommen, das gibt's öfter. Deshalb hab ich mir auch an diesem Morgen nichts dabei gedacht, als ich die Warenträger vors Geschäft stellte und zwei Männer, die ganz offensichtlich keine Kunden waren, sich näherten. Bis einer mir dieses Schriftstück unter die Nase hielt. Haftbefehl. Ein zehnjähriges Mädchen sollte ich vergewaltigt haben, hier im Laden, vor anderthalb Jahren. Vorbeilaufende Passanten hätten zunächst ins Schaufenster gestarrt, aber nichts unternommen, da hätte ich die Vorhänge zugezogen. Und die Tür mit einem Riegel verschlossen.

SCHOCK? UNGLÄUBIGKEIT? DAS ALLES KAM SPÄTER.

Anfangs waren es vor allem Wörter, an denen ich hängen blieb. Riegel. Stuhl. Vorhang. Nichts davon gibt's in meiner Boutique. Die Männer aber schien das nicht zu interessieren. Mir blieben Minuten, um meine Sachen zusammenzupacken. Meinen Anwalt anzurufen. Und meine Mutter. Sie ist 80. "Ich versteh bis heute nicht, weshalb sie dich mitgenommen haben", sagt sie manchmal. Eine Generation, die den Krieg erlebt hat, für die ist Mitnehmen was anderes.

Auf den - zum Glück - halbwegs diskreten Gang durch die Ladenpassage, vorbei an Kunden und Geschäftskollegen zu diesem - zum Glück - Wagen, der nicht als Polizeifahrzeug zu erkennen war, folgte die Schikane. Handschellen. Vorwurfsvolle Blicke. Und immer wieder diese Frage: "Wollen Sie's nicht lieber gleich zugeben?" - "Bleiben Sie ruhig", auch dieser Satz fiel oft. Eine Provokation. Denn ich war ruhig. Nahm einfach nur wahr, und das sehr genau. Eine Kriegserklärung, schon allein der Ton der Anweisungen, als wir schließlich im Präsidium waren: "Geben Sie den Rucksack ab, die Schlüssel, gehen Sie links, rechts, geradeaus." Kriege eskalieren, wenn die Gegenseite zurückschießt. Nur kurzfristig, als ich in diese Zelle kam, die sonst wohl eher der Ausnüchterung dient, konnte ich es mir nicht verkneifen, ebenfalls im Militärton zu sprechen: "Schuhe korrekt neben die Tür gestellt?"

In der Zelle fing ich dann zum ersten Mal an, zu hinterfragen. Wer konnte mir so was anhängen wollen? Ein Bewerber für noch unvermietete Ladenfläche in der Passage, ein Konkurrent? Mir fiel auch ein, was ich zwei Tage vorher in der Zeitung gelesen hatte: dass es in der Stadt einen neuen Polizeichef gab, einen, der sich vermehrt um Sexualdelikte kümmern wolle. Spekulationen, wie man sie sonst vom Krimigucken kennt: Konnte es sein, dass hier eine gezielte Kampagne auf polizeilichen Übereifer traf? Der Polizeibeamte, der mich dann zur Person befragte und Formulare ausfüllte, legte ein Foto auf den Tisch. Ich erkannte das Kind. Die Tochter einer Kundin, keine Stammkundin, höchstens alle paar Monate mal im Laden. Eine neutrale Info, das Foto - sonst nichts. Das Mädchen trägt keine Schuld. Schon gar nicht, seit ich weiß, dass es behindert ist. Schuld hat ein System, das so was zulässt: einen Menschen einsperren, ohne vorher belastendes gegen möglicherweise entlastendes Material abgewogen zu haben.

VIELES, WAS ICH IN DEN KNAPP DREI MONATEN NACH DER FESTNAHME ERLEBT HABE, WAR MENSCHENUNWÜRDIG.

Angefangen bei der Vorführung beim Haftrichter, wo meine Handfessel über einen angeschweißten Ring an einem Metallpult befestigt wurde. Bis hin zu dieser Kluft, die ich im Gefängnis bekam. Grauer Overall, Strümpfe wie Säcke. Stuttgart-Stammheim, der Terroristenknast, das ist einzigartig. Ich erinnere noch gut das Gefühl der Beklemmung, als mein Vater mir den Bau mal gezeigt hat, Anfang der 70er. Dabei ahnt man von außen nicht mal ansatzweise, wie Stammheim wirklich ist. Viererzellen, braun getäfelt, deckenhoch. An die Wand geschmierte Fäkalien. Ein Klo, nur durch eine Metallplatte vom Rest des Raumes abgeschirmt, jeder kriegt mit, wie man sein Geschäft verrichtet. Schwer zu beschreiben, wie man die Tage und Nächte erträgt. Man sitzt. Man geht. Nimmt sich einen Stuhl, macht Dehnungsübungen. Kann mit der Zeit am Motorengeräusch erkennen, ob die ankommenden Gefangenentransporter aus Tübingen oder Freiburg kommen. Man darf sich bloß nicht von der Wut, der Ohnmacht kaputtmachen lassen. Schließlich muss man fit sein, für eine Gerichtsverhandlung - aber wann? Wieder Selbstdisziplin. Das zermürbt, wo man doch so sicher davon ausgegangen war, nach zwei Tagen wieder draußen zu sein.

Meinen Anwalt hab ich in den drei Monaten nur einmal gesehen. Gleich am Morgen nach der Inhaftierung. Er wirkte betroffen. Wir mussten nicht viel reden, die Infos, die ich ihm gab, genügten ihm. Dass es keinen Vorhang gab und nie gegeben hat. Dass ich nicht wüsste, von welchem Stuhl die Rede sei, in meinem Laden gab es nur Hocker. Ich wusste, mein Anwalt würde alles tun. Außer: mir schreiben. Bloß keine möglichen Hinweise, Kinderschänder werden gegrillt im Knast. "Steuerhinterziehung", hab ich gesagt, wenn einer was wissen wollte. Und das Schreiben der Staatsanwaltschaft, die einzige Post, die ich bekam, nach dem Lesen gleich wieder einem Beamten in die Hand gedrückt. Der angebliche Hergang der Tat war noch mal genauer beschrieben darin. Wie das Kind am Oberkörper und im Schritt manipuliert worden sei. Eine Sprache, so detailreich, wie man es von einer Zehnjährigen nie erwarten würde.

"Diese Sprache - so redet kein Kind", schrieb ich meinem Anwalt. Das Gutachten, das in den Wochen nach meiner Freilassung von einer Psychologin erstellt wurde, erklärt die Hintergründe genauer. Geht beim Kind von einem IQ von um die 50 aus. Und erklärt gerade damit seine rhetorische Stärke. Als Kompensation. Von in sich schlüssigen, komplexen Schilderungen sprach die Psychologin vor Gericht. Und dass sie zunächst selbst angetan gewesen sei. Bis ihr immer mehr Ungereimtheiten aufgefallen seien. Etwa, als das Kind eine Skizze des Ladens angefertigt hätte. Winzige Fenster. Viel zu lange Vorhänge. Rosa Vorhänge. In einem Jeansladen? Wie oft sie denn schon dort gewesen sei, hat die Gutachterin gefragt. "Öfter", hieß es zunächst. Und dann: "Als es passierte, zum ersten Mal."

Die Gutachterin hat dann rausgefunden, dass das Mädchen regelmäßig Gerichtsshows schaut. Und schon öfter Lügengeschichten erfunden hat.

DASS ALL DAS ERST IM NACHHINEIN RECHERCHIERT \ WURDE, REGT MICH AUF. WIESO IST NIEMAND GLEICH AUF DIE IDEE GEKOMMEN, SICH DIESES KIND MAL GENAUER ANZUSCHAUEN?

Wieso sind Polizeibeamte während meiner Inhaftierung stattdessen zu Inhabern benachbarter Geschäfte gegangen und haben scheinheilig gefragt, ob man öfter Kinder bei mir im Laden gesehen hätte? Im ganzen Stadtteil ist bekannt, dass wir früher Kindermode verkauft haben! Wieso hat man nicht einfach mal das Naheliegende getan: die Anschuldigungen zum Beispiel noch vor einer möglichen Festnahme mit den örtlichen Gegebenheiten abgeglichen? Das ist Deutschland, alles geht seinen Amtsweg, im Detail mögen die Schritte korrekt sein, doch der Blick aufs Ganze, aufs Wesentliche, geht verloren. Obrigkeitsdenken. Systemtreue.

LETZTLICH HAB ICH DANN WOHL DUMMENGLÜCK GEHABT.

Mit dem früheren Dienststellenleiter der örtlichen Polizei verbindet mich was. Unser Stadtteil ist ein Dorf, man kennt sich, macht Small Talk, auch mit dem Sheriff, der öfter bei mir im Laden war. Dem doch was auffallen musste, wenn er die Anschuldigungen las. Schon in einem meiner ersten Briefe an den Anwalt hab ich ihn als Zeugen angegeben. Auch dass er inzwischen die Dienststelle gewechselt hätte, wohin auch immer. Es konnte ja wohl kein Problem für die ermittelnden Polizeibeamten sein, den beruflichen Werdegang eines Kollegen weiterzuverfolgen.

Konnte es doch. Wochen hat es gedauert, bis es endlich - erstmalig! - zu diesem Ortstermin kam. Abgleich mit dem entsprechenden Tagebucheintrag der Polizeidienststelle. Widersprüchlichkeiten, eindeutig. Kurz darauf muss dann ein Fax ans Amtsgericht gegangen sein, wurden Nachermittlungen veranlasst.

Wie gesagt: Ich selbst hab von all dem nichts mitbekommen. Hab den Bau gewechselt. Die neue Zelle war nicht so versifft, vor allem aber durfte man arbeiten, ein Privileg, zum Glück hatte ich bei meiner Ankunft gleich einen Antrag gestellt. Kataloge stapeln. Kippwinkel zusammensetzen. Tätigkeit baut Anspannung ab. Lässt wenigstens ein kleines bisschen Mensch sein. Und macht damit auch wieder verletzlich... nach Wochen strenger Selbstkontrolle. Nie werde ich vergessen, wie dann das Telefon klingelte - an meinem zweiten Werkstatttag. Der Werkstattleiter nahm einen Zettel, notierte was, rief mich her. Ich solle die "Terminkleidung" abholen und anziehen, sprich: meine eigenen Klamotten. Mithäftlinge haben mir zugezwinkert, die Daumen aufgestellt. Doch ich blieb skeptisch, bis zuletzt. Zittern. Tränen. Zusammenbrüche, immer wieder. Bis ich dann in der Dämmerung tatsächlich durch dieses Stahltor ging.

NEIN, ES WAR KEIN EUPHORISCHER GANG, ICH WAR NICHT GLÜCKLICH, ENDLICH FREI ZU SEIN.

Ich hatte Kopfweh. Lief rein in den Ort, zur Straßenbahn. Fuhr nach Hause, ging die Treppen rauf in eine Wohnung, in eine Normalität, die keine mehr war. Nichts ist mehr normal, wenn die Nachbarn einem mit ihren scheinbar freundlichen Blicken nur die halbe Wahrheit sagen. Wenn man, weil alles andere peinlich wäre, Geschäftskollegen gegenüber Sprüche wie "Bin wieder fit" fallen lässt, was so klingt, als sei man krank gewesen.

Aber ich bin nicht nur seelisch ruiniert, auch finanziell. Kein Selbstständiger kann sich das leisten: mal eben ein gutgehendes Geschäft für drei Monate dichtmachen. Die Kraft, die mich die Wiedereröffnung gekostet hat, hätte ich mir sparen können. Es kommen kaum noch Kunden. Miese Gerüchte bleiben eher haften als eine Meldung im Lokalteil der Zeitung über den tatsächlichen Prozessausgang.

Die 25 Euro Haftentschädigung abzüglich Betreuungs- und Verpflegungskosten pro Tag sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Da hilft es auch nicht, dass sich die Staatsanwältin am Ende der Gerichtsverhandlung mit Handschlag bei mir entschuldigt hat. Dass alle Beteiligten, Richter, Staatsanwaltschaft und sogar der Opferanwalt auf Freispruch plädierten. Es ist das Mindeste, dass es so gekommen ist. Aber das Mindeste macht das Leben eines Menschen, das wegen nichts zerstört wurde, nun mal nicht wieder heil.

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