Balkon war uns eigentlich immer genug. Jetzt haben wir eine Wohnung mit Garten. Genauer: mit Gärtchen, 10 x 15 Meter. Vor dem Gärtchen rauscht ein Bach. Genauer: eine Kloake, die Behörde warnt vor Hautkontakt. Wo unser Mehrfamilienhaus steht, war früher mal Industrie. Genauer: eine Kupferhütte. Den verseuchten Boden haben sie links vom Haus zu einer Halde zusammengeschippt, obendrauf parken Autos. Von rechts grüßt das Müllheizkraftwerk herüber. So ist das, wenn man in einer Stadt wie Frankfurt am Main wohnt.
Wir haben keine Ahnung vom Gärtnern, gucken aber schon mal fremde Gärten. Wir sehen: 60er-Jahre-Häuser, die von waldhohen Fichten verdunkelt werden; neue Häuser mit Tennisrasen und blickdichter Umrandung aus immergrünen Thujen, Scheinzypressen, Kirschlorbeer; gekieste Feng-Shui-Gärtchen mit Buchskugeln und Dekograshalmen. Und überall wenden uns überdimensionierte Gerätehäuser ihren Hintern zu.
Rasen ist spießig, erst recht Rollrasen
Da wissen wir noch nicht, was alles Natur ist.
Dann kommt der Rollrasen, sozusagen automatisch vom Bauträger. Eigentlich doch ganz hübsch. Die Natur kommt auch, aber nicht die, die wir eingeladen hatten.
Die Ersten sind die unerschrockenen Stadtkaninchen, die buddeln nächtens verzweigte Bauten. Die Terrasse droht einzusinken. Eine Blitzrecherche im Internet ergibt: Hundehaare in die Löcher! Die Kaninchen scharren die Haare des Nachbarhunds wieder raus. Also Blumentöpfe auf die Löcher. Mäßig dekorativ.
Statt Igeln locken wir Mäuse an
Igel hingegen würden wir begrüßen. Ein Igelhaus in eine stille Ecke, anheimelndes Laub drübergestreuselt, jeden Abend ein Schälchen mit Haferflocken-Katzenfutter-Brei danebengestellt. Zum Anlocken, ein Tipp aus den Igelforen. Jeden Morgen ist das Schälchen leer. Drumherum Mäusekotwürstchen. Aus dem Igelhaus wächst eine Distel.
Überhaupt die Unkräuter, politisch korrekt: Wildkräuter. Wachsen gefühlt zehn Zentimeter pro Tag. Logisch, die haben sich ihren Standort selbst ausgesucht, den mit den optimalen Bedingungen. Aus Mitleid mit meinen Zierpflanzen ziehe ich Hunderte von Unkrautkeimlingen aus den Beeten. Dumm nur, dass ich auch Blumen habe, die gepriesen werden als „sich selbst versamend“. Als Keimlinge sehen die alle gleich rührend aus.
Natürlich haben wir längst ein „Insektenhotel“ aufgehängt. Ein aufgeschnittenes kleines Holzhaus, drei Etagen, in jedem „Zimmer“ steckt anderes Nistmaterial für „Nützlinge“ wie Florfliegen, Wildbienen und Ohrwürmer. Das Stroh ist bald alle. Die Vögel haben es rausgezogen, zum Nestbau. Hatten wir das denen erlaubt?
Unser Garten ist ein einziges Schlachtfeld
Dafür fühlen sich bei uns andere Insekten wohl: Läuse im Holunder, Läuse im Kirschbaum, Läuse in der Rose. Die Ad-hoc-Recherche ergibt: Wir brauchen Marienkäfer. Übers Internet bestellt kommt ein schwarz gefülltes Döschen. Mit Grausen löffle ich die Larven in Pergamenttütchen und hänge die mit Wäscheklammern in die Zweige. Sieht aus wie Osterschmuck. Ein später Nachtfrost rafft alle dahin.
Im Mai sind dann doch ein paar Marienkäfer eingewandert. Ein Bild des Grauens: Die dicken Gepunkteten sitzen auf den Läusen, einige kopulieren, andere mampfen, während Ameisen immer weitere Eier hochtragen, um ihre Lausplantagen anzulegen – Ameisen lieben süße Läusescheiße.
Dafür hören andere, wie wir uns streiten: Darf ich die Elster verscheuchen, die ausgerechnet während der Brutzeit der Kohlmeisen hier rumstakst? Nein, sagt der Gatte, die hat auch Junge! Darf er die Ameisen töten, die genau unter den Terrassendielen einen Hügel zu bauen beginnen? Äh, sage ich. Ja, sagt er, wir haben auch Rechte.
Und dann haut auch noch die Moschusmalve ab
Er errichtet eine Schranke aus Zimtpulver, die Ameisen verlieren die Orientierung. Nach fünf Stunden ist die Schranke verduftet, die Ameisenstraße formiert sich neu. Das Internet sagt: Backpulver lässt Ameisen platzen. Eine Mär. Die Schwiegermutter rät: Kochendes Wasser drüber. Ein Massaker vor meiner Terrassentür. Ich flüchte. Die Ameisen auch.
Unser Weltbild ändert sich. Natur ist nicht so lieb wie gedacht. Und wir sind nicht so naturliebend wie angenommen. Kultur ist prima, und Gartenkultur heißt schneiden, reißen, zwicken, triezen... Die Rose versteht das angeblich als „Anregung“, mehr zu blühen. Der üppig rankende Wein will ein Gemetzel, sonst trägt er nie. Bis auf einen amputieren wir sämtliche Zweige.
Und dann die irren Kreisläufe. Wer Schmetterlinge fördern will, muss leider erst einmal ihren Vorformen was bieten: „krautige“ Chaosecken für die Raupen. Das freut auch die Vögel: Selbst wenn sie das ganze Jahr Samen fressen, für ihre Jungen brauchen sie hochkalorisches Lebendprotein.
Leider haben die Vögel keinen guten Geschmack
Ach, die Vögel! Ohne jedes ästhetische Verständnis. Drei Nistkästen stehen ihnen zur Verfügung: zwei hübsche aus Holz mit Satteldach, ein hässlicher von einem Naturversand, aus „Holzbeton“. Sieht aus wie die Bunker, die die Nazis an der französischen Atlantikküste bauten. Und wo nisten die Vögel am liebsten? Genau.
Zu meiner Ehrenrettung: Einige bleiben auch. Gäste jedenfalls sind entzückt vom Gärtchen. Nuschelt man was von „viel Arbeit“, heucheln sie Verständnis, um dann gleich weiterzuschwärmen: In der Erde wühlen, wie schön! Über die Haltbarkeit von Erdfarben unter Fingernägeln wollen sie nichts hören. „Holunderbeerkompott“, ächzen sie. Jaja, sag ich desinteressiert. Die Warnung im Rezept – „Vorsicht: große Sauerei“ – hatte ich hochnäsig überlesen. Ergebnis: große Sauerei, viele Kernchen, wenig Kompott. Sie flöten: Da hat man immer Bewegung! Ja, toll, nie hab ich mich so alt gefühlt wie beim gebückten Jäten.
Wir büffeln abartige Wörter wie "Befruchterbaum" und "Grubber"
Sie wissen nichts. Dass wir den Urlaub zwischen Zwetschgen- und Apfelernte quetschen müssen; dass wir abartige Wörter wie „Befruchterbaum“ und „Grubber“ büffeln; dass wir samstags schwitzend unter den Stauden rumkriechen und hartleibiges Unkraut aus dem Boden pulen, während auf den Balkons über uns längst Kaffeerunden kichern und Grillgeräte angeworfen werden.
Nie war ich so froh über den Einbruch des Winters wie nach dem ersten Gartenjahr. Endlich alles dahin, alles wieder klar und gerade und kahl. Herrlich. Terassentür zu, Ruhe.
Jetzt ist wieder Frühjahr, und ich bange hinterm Fenster: Wer wird den Kampf um den Betonbunker gewinnen – Gartenrotschwänzchen oder Kohlmeise? Ich packe die Samen der Gartensterndolde (Rote Liste!) für 6 Wochen (in Worten: sechs) in den Kühlschrank, weil „Kaltkeimer“ so was angeblich brauchen. Und wir diskutieren hitzig, ob wir dem dussligen jungen Amselpaar, das zwischen Hauswand und Weinrankgitter schütteres Rupfzeug wirft, eine solide Nestplattform basteln sollen.
Herzlich gelacht
Herzlichen Dank für Ihre wunderbare Glosse "Eins zu Null für die Blattlaus" (chrismon 04.2013)!
Ich habe die Gartenerfahrungen meiner Familie wiedererkannt, mit Ihnen gefühlt und herzlich gelacht.
Danke für vergnügliche 5 Minuten am heutigen Nachmittag
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