Photo Credit: Jaap Buitendijk
Wo die guten Geschichten wohnen
Wer sagt denn, dass unsere Kids nur noch an der Konsole sitzen? ­Tatsächlich scheint das Kino­publikum der Zukunft ausgesprochen belesen zu sein. Jugendbücher von "Harry Potter" bis ­"Tribute von Panem" gehen in Hollywood seit Jahren weg wie warme Semmeln

01.05.2012

»And the Oscar goes to: Hugo Cabret!« Gleich fünf Mal galt dieser Satz auf der diesjährigen Oscarverleihung Martin Scorceses Film nach dem gleichnamigen Jugendbuch des amerikanischen Autors Brian Selznick (erschienen im Verlag cbj). Eine Überraschung? Eher nicht. Denn Jugendbücher gehören seit Jahren zu den bevorzugten Stoffen der Filmindustrie. Dabei sind Klassiker wie »Die Chroniken von Narnia« und Tolkiens »Hobbit« eher Außenseiter. Die Bücher, von denen Hollywood zehrt, sind Produkte der zeitgenössischen Kultur, auch wenn sie manchmal nicht so aussehen: von »Lemony Snicket« über die »Spiderwick-Geheimnisse«, von »Potter« bis »Percy Jackson«, von »Eragon« bis zum »Goldenen Kompass«.

Goldgruben für die Filmindustrie

Manche sind regelrechte Goldgruben wie die Vam­pirromane von Stephenie Meyer, die sich mehr als hundert Millionen mal verkauften; Twilight 4: Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht lag auf Platz 5 der Kinocharts des Jahres 2011. An "The Hunger Games – Die Tribute von Panem" nach den Romanen von Suzanne Collins knüpfen sich ähnlich große Hoffnungen. Und weitere Titel stecken in der Pipeline. Für 2013 angekündigt sind Adaptionen von Marie Lus »Legend« – das Buch wurde der Autorin buchstäblich aus den Händen gerissen – und von Orson Scott Cards Science-Fiction-Klassiker »Ender’s Game« aus dem Jahr 1985. In Deutschland kündigt sich ein ähnliches ­Phänomen an. Cornelia Funke, mit Titeln wie Tintenherz, Herr der Diebe, den Wilden Hühnern und Hände weg von Mississippi vermutlich unsere »meistverfilmte« zeitgenössische Autorin, repräsentiert bereits so etwas wie ein eigenes Franchise; gerade gedreht werden der erste Teil von Kerstin Giers »Edelstein«-Trilogie um eine junge Zeitreisende (mit Veronica Ferres) und Lisa Tetzners Jugendroman »Die schwarzen Brüder« (mit Moritz Bleibtreu).

Der Umsatz mit Kinder-und Jugendbücher steigt

Offenbar bieten Jugendbücher ein großes Potenzial für Buch- und Kinoerfolge. Denn sie erzählen direkt, ohne lange Vorreden und Umschweife und legen Wert auf spannende, den Leser berührende Geschichten. Das macht sie auch für erwachsene Belletristik­leser und -leserinnen attraktiv – die jährlichen Umsatzsteigerungen im Jugendbuch sind nicht zuletzt auf die nach oben hin erweiterte Leserschaft zurückzuführen. Laut Media Control GfK International ist der Umsatz mit Kinder- und Jugendbüchern 2011 um 1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, war gerade im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel« zu lesen; der Umsatzanteil der Bücher für die jungen Leser am gesamten Buchmarkt hat sich von 16,7 auf 17,2 Prozent erhöht.

Auch Verlagen, die sonst nur Lesestoff für Erwachsene produzieren, erscheint der Jugendbuchmarkt so lohnend, dass sie dort mit kleinen Imprints und Labeln mitmischen. »Heyne fliegt« heißt der Heyne-Ableger, Egmont hat im vergangenen Herbst mit Egmont Ink die Lücke zwischen dem SchneiderBuch für Kinder und Lyx für Erwachsene geschlossen, Piper geht in diesem Frühjahr mit dystopischen und futuristischen Titeln ins Rennen. Fantasy-Romane mit einer durchschnittlichen Dicke von 600 Seiten sind beim Nachwuchs unverändert beliebt, bevorzugt mit romantischen Elementen. Fast immer sind da zwei, die sich finden müssen, eine unstillbare Sehnsucht nach dem anderen, fast unüberwindbare Schwierigkeiten, Bosheit, (Hinter-)List. Aktuell gerne verknüpft mit einem viktorianischen Setting à la Emily Brontë – nostalgisches Schwelgen ist wieder in.

 

Future-Fiction: Der neue Trend

Vor anderthalb Jahren haben solche historischen Schauplätze mit dampfbetriebener Luftfahrt und fantastischen Abenteuern in der Gunst der jungen Leser mächtig angezogen – Steampunk nennt sich diese literarische Form der Science-Fiction, zu der ein Aufbegehren gegen bestehende gesellschaftliche Zustände gehört, so wie es in Fritz Langs Filmklassiker Metropolis als Urfolie gezeigt wird. In Richard Harlands »World­shaker« (Jacoby & Stuart) etwa trifft der adlige Col Porpentine in einem dampfbetriebenen und über Land marschierenden Schiff auf das Mädchen Riff, das ihm die krassen Missstände an Bord zeigt: Das Schiff bewegt sich nur, wenn die »Dreckigen« unter Deck schuften. Worauf Col für Riff und ihre Leute zu kämpfen beginnt. Ähnliche Steampunk-Bücher sind Thomas Thiemeyers »Chroniken der Weltensucher«, Ian Becks »Pastworld« (Loewe) oder Bernd Perplies’ »Magierdämmerung« (Lyx).

Zugenommen hat auch das Genre der Future-Fiction, das sich neben technischen mit sozialen und biologischen Fragen beschäftigt. Tödliche, mutierte Viren, Gefahren aus der weltweiten Vernetzung, in Menschen eingepflanzte Computerchips oder schmelzende Polkappen sind Stoffe, die diese Bücher behandeln. Susan Beth Pfeffers »Die Verlorenen von New York« (Carlsen) etwa kämpfen um das nackte Überleben in der Großstadt – nachdem es kein Sonnenlicht mehr gibt. Schon im vorangegangenen Roman »Die Welt, wie wir sie kannten« (Carlsen) hat sie die unerwarteten Folgen jener Asteroidenkollision mit dem Mond beschrieben, da jedoch aus der Sicht einer jungen Frau auf dem Land. In »Grau« (Eichborn) gibt Jasper Fforde die Zukunftsvision einer farbigen Welt von Oz. Je mehr Rot oder Gelb dort jemand sehen kann, umso höher steht er in der Rangordnung. Dagegen lehnen sich die Jugendlichen Edward, ein Roter, und Jane aus der grauen Unterschicht auf. Als drittes Beispiel sei »Die Rebellion der Maddie Freeman« (Boje) genannt: Katie Kacvinsky beschreibt, wie sich eine 17-Jährige gegen die vorherrschende, nur noch virtuell über den Computer wahrgenommene Welt wendet, zu deren wichtigen Hütern ihr Vater zählt. Und wie sie sich in einen gegen die mächtigen Social Networks kämpfenden Outlaw verliebt... Liebe muss nun mal sein im Jugendbuch.

Liebe, Lust und Leidenschaft

Zu ihr gehören mittlerweile Lust und Leidenschaft. Nicht zuletzt das Internet hat dazu geführt, dass alte Tabus gefallen sind. In der Jugendliteratur darf man über alles erzählen, ohne verschämt wegzuschauen. Über eine Lehrerin, die eine Amour fou mit einem Schüler unterhält, über Cousine und Cousin, die auf dem Bett der kurz zuvor beerdigten Oma übereinander herfallen, über einen Handjob am belebten Strand. Melvin Burgess ist mit dem Buch »Doing it« (Carlsen), das Sexualität aus den Perspektiven unterschiedlichster Protagonisten betrachtet, ein Glücksfall gelungen. Die von Ilona Einwohlt herausgegebene Anthologie »Lust, Liebe, Sex« (Beltz & Gelberg) ist das erste erotische Jugendbuch, bei dem auch Erwachsene noch rote Ohren bekommen können. Und Christoph Wortbergs Schilderung in »Dieser eine Moment« (Thienemann), wie Laura im Strandkorb den Reißverschluss von Jans Hose öffnet und ihn ungeachtet der Spaziergänger mit der Hand befriedigt, unterstreicht das selbstsichere Auftreten der Heldin – eine Szene wie diese wäre aber noch vor einigen Jahren in einem Jugendbuch undenkbar gewesen. Es ist nicht so sehr die Fülle an solchen Titeln, die auffällt, sondern das Bewusstsein der Autoren, Sexualität nicht mehr als erzählte Aufklärung zu verstehen. Was eher konservative erwachsene Leser durchaus verstört und manchen Lehrer von der Lektüre abstößt. »Die Jugendliteratur wird nicht immer extremer«, glaubt cbj-Programmleiterin Susanne Krebs, »sie wird ehrlicher und aufrichtiger.« Dazu gehören auch die gesammelten Pubertätspleiten eines Jaromir Konecny (etwa in »Doktorspiele« oder »Krumme Gurken« bei cbj), der sich eher der komischen Momente des Erwachsenwerden annimmt und als anerkannter Slam-Poetry-Aktivist gleichermaßen vor Erwachsenen vorträgt.

Aber auch anderweitig geht es im Jugendbuch richtig zur Sache, wie die zunehmende Zahl von Blutspuren auf den Buchumschlägen zeigt. Jugendliche sind Opfer wie Täter, es geht um Unfälle und Morde, der Tod ist als Motiv eingekehrt und die Härte der Fälle nicht mehr arg entfernt von der verbrechensdurchseuchten Welt der erwachsenen Psychothriller. Wer etwa »Der erste Tod der Cass McBride« von Gail Giles (Thienemann) liest, braucht starke Nerven. Nach dem Selbstmord seines jüngeren Bruders entführt Kyle das Mädchen Cass, da er glaubt, Cass sei schuldig an dessen Tod. Er begräbt sie lebendig in einer Holzkiste, nur über Walkie-Talkie halten sie miteinander Kontakt. Der Text packt den Leser unmittelbar.

 

Zartbesaitet ist hier gar nichts mehr

Den Weg für eine Fülle weiterer Psychothriller aus Jugendbuchverlagen hat Monika Feths 2003 erschienener Roman »Der Erdbeerpflücker« (cbj) geebnet, der seine Leser weit über das Jugendbuch hinaus fand. Darin erzählt sie über ein totes Mädchen und ihre Freundin, die sich auf die Suche nach dem Täter macht und ihm näher kommt, als ihr lieb ist. Der schwedische Autor Mats Wahl erfand sogar, entgegen den Gepflogenheiten des Jugendbuchs, Helden im Alter der Leser anzubieten, mit Kommissar Fors einen gestandenen Haudegen, der sich kaum mehr von einem Kurt Wallander oder Gunnar Barbarotti unterscheidet. Immerhin sorgen die Fälle rund um rechtsradikale und psychisch labile Jugendliche noch für unmittelbare Nähe zur Erfahrungswelt junger Leser.

Um universelle Fragen nach Moral und Unmoral, nach Schuld und Sühne drehen sich die Romane des englischen Autors Kevin Brooks. Sein mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneter Thriller »The Road of the Dead« (dtv) erzählt von den beiden Brüdern Ruben und Cole, die sich eigenmächtig auf die Suche nach dem Mörder ihrer Schwester aufmachen. Dabei setzt der ältere der beiden Brüder auch körperliche Gewalt als wirksames Mittel ein, um der Wahrheit näherzukommen. Jan Guillous Roman »Evil« (Hanser), in Schweden Schullektüre, wiederum setzt sich mit dem physischen und psychischen Machtspielen in einem Eliteinternat auseinander, in dem nur überlebt, wer sich mit Gewalt an die Spitze setzt. Ein verstörender und radikaler Titel, der aber rundweg zu fesseln vermag.

And the Oscar goes to...

Aber nicht immer muss ein Verbrechen Auslöser sein. Janne Tellers Roman »Nichts. Was im Leben wichtig ist« (Hanser), im dänischen Original schon vor zwölf Jahren veröffentlicht, ist seit seinem Erscheinen in Deutschland vor zwei Jahren auch hier ein Riesenerfolg. Eine Schulklasse, provoziert von einem renitenten Schüler, macht sich auf die Suche nach den Dingen, die Bedeutung haben. Der Reihe nach trägt jeder als Beweis zusammen, was ihm wirklich wichtig ist. Bis ein Mädchen ihre Jungfräulichkeit opfern muss, ein Junge seinen Finger. Ein klarer Fall von Tabuverletzung, aber in der parabelhaften Geschichte mit großer Wirkung eingesetzt, und das weit über die Grenzen der Jugendliteratur hinaus.

Gut erzählte Jugendbücher eröffnen Bilder vor dem geistigen Auge des Lesers. Und inzwischen werden auch Drehbuchschreiber als Autoren für Jugendbücher gewonnen, wie etwa Thorsten Nesch mit »Joyride Ost« (rororo), einem Roadmovie um ein junges Pärchen mit Migrationshintergrund, das im Kofferraum des gestohlenen Wagens einen Mafiakiller findet. Den Autoren mit Erfahrung mit Verfilmungen merkt man oft auch bereits beim Lesen die vor dem inneren Auge als filmische Sequenzen geplanten Szenen an – wie im Falle von Cornelia Funkes »Reckless« aus dem vorletzten Jahr. Die Verlage buhlen auch um die Kinobesucher als Leser: »Heyne fliegt« etwa hat zu dem Ende Februar erschienenen »Wildwood«-Roman von Colin Meloy eine bundesweite Leseprobenkooperation mit den Cinemaxx-Kinos organisiert. Der Auftakt des Buchs ist bereits filmreif: Vor den Augen der Heldin wird ihr jüngerer Brüder von einem Schwarm Krähen in die Luft gehoben und in eine Welt mit sprechenden Tieren entführt. Wer sich das von deutschen Effektspezialisten gut umgesetzt im Kino vorstellt, der hat dann womöglich schon wieder den legendären Satz im Ohr: »And the Oscar goes to...«.

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