Erst hatten die Oh-Gott- Rufer das Wort, dann näherten sich die Kinderwagen-Belagerer. Als ob das Leben mit Zwillingen nicht schon anstrengend und wunderbar genug sei
07.10.2010

Der Mensch kommt sprachlos zur Welt, aber die beiden redeten von Anfang an miteinander, in den Nächten haben wir es gehört. Einer atmete, hm-hm-hm. Dann verstummte er, und der andere nahm den Faden auf, hm-hm-hm. Dann wieder der Erste: hm-hm-hm. So ging das minutenlang, auch im Schlaf.

Sie schreien auch doppelt so laut

Sie lagen, als sie ganz klein waren, zu zweit im selben Bett. Wenn einer aufwachte und vor Hunger ohrenbetäubend brüllte, zehn Zentimeter neben dem Ohr des anderen, wachte der davon nicht auf. Das ist bis heute so geblieben. Es hat zwar inzwischen jeder sein eigenes Bett, aber dafür schreien sie auch doppelt so laut.

Wir wohnen im vierten Stock ohne Fahrstuhl. Zwillinge im Alter von sieben Monaten auszufahren bedeutet, im Falle man mit ihnen alleine ist: Die Sachen, die man draußen braucht, in die grüne Tasche packen, diese griffbereit an den Ausgang hängen. Dann Schlüssel von außen ins Schloss stecken, Schuhe anziehen. Dem Jungen, der sich mit einem Gummilöffel unterhält, Jacke und Mütze überstreifen, ebenso dem Mädchen, das graziös das Bein ausstreckt, um seine Zehen zu begutachten. Dann Rio, rund neun Kilo schwer, ins Tragetuch, Lou, sieben Kilo, unter den Arm, Tasche über die Schulter, Schlüssel zweimal umdrehen. 103 Stufen, ein Baby umgebunden, eins im Arm. Die Glatzköpfchen wippen, vier große Augen, zwei braun, zwei blau, misstrauen dem Halbdunkel. Im Parterre ist der Doppelkinderwagen mit einem Schloss gegen Diebstahl gesichert. Spiralschloss einhändig aufschließen, Holzkeil suchen, der die Tür offen hält und den die Putzdienste gerne auf dem Stromkasten, im Geländer oder sonstwo verstecken. Bücken zu dritt nicht möglich, Keil mit dem Fuß unter die Tür kicken. Kinderwagen, genau elf Kilo, mit der freien Hand die sieben Stufen zur Tür und die drei Steinstufen außen herunterhoppeln lassen. Kinder hineinlegen. Wie bewusst sind mir Zahlen, Gewichte und physikalische Formeln in wenigen Monaten geworden. Tragetuch abwickeln. Es kann losgehen. Nachher müssen wir wieder nach oben, alle drei.

Die Straße ist nass bis hinüber zum Park, unentschieden treibt der Wind modrige, eiskalte Blätter vor sich her. Noch haben wir die Straßenecke nicht erreicht, da nähern sie sich schon ­ die Ersten für heute. Ich schaue angestrengt zu Boden, aber es nützt nichts. Ich höre sie, die wohl bekannten Entzückensschreie derer, die den breiten Wagen von weitem identifiziert haben: "Ah, guck mal, Zwillinge."

"Ah, guck mal, Zwillinge."

Die Blicke fliegen unter die blaue Haube, ohne sich lange bei mir aufzuhalten: "Oh, schau mal, sind die süß." Jetzt doch: Mutter kurz ansehen, fragen: "Jungen oder Mädchen?" Standardantwort: "Beides." "Ach, ein Junge und ein Mädchen ­ wie niedlich!" Wieder Mutter ansehen: "Aber viel Arbeit, oder?" Danach könnte noch kommen: "Eineiig oder zweieiig?" (Antwort: "Zweieiig. Eineiige haben dasselbe Geschlecht und sehen identisch aus.") "War sicher eine schwierige Geburt, oder?" (Antwort: "Einfacher als erwartet. Ambulant, ja. Erst der Junge, dann das Mädchen. Nein, nur vier Minuten auseinander. Rio und Lou.) Außerdem könnte kommen: "War das eine Hormonbehandlung oder einfach so?" Ja, ganz normale Passanten, die sonst nicht einmal die Zähne für ein "Pardon" auseinander kriegen und schon gar nicht einer Frau mit Kinderwagen in den Bus helfen würden... Antwort: Bin schon weitergegangen, trotz der in Zuneigung sich berechtigt glaubenden Hände, die meinen Babys bereits sehr nahe kamen ­ mit all dem Schmutz an den Fingern vom Geld-Ausgeben, Rauchen, Hunde-Streicheln.

Je nach Wochentag und Ort kann sich diese Szene alle dreißig Meter wiederholen, und niemand versteht, warum ich inzwischen so unwirsch reagiere. "Bleiben Sie doch stehen! Man wird ja wohl mal gucken dürfen!" So muss es sein, wenn man plötzlich berühmt wird und die Umwelt ihre Distanz verliert, weil sie glaubt, sich durch Fernsehen Besitz angeeignet zu haben. Ich beneide keine Stars, ich habe selbst zwei im Wagen.

Zwillinge sind ein Mythos, seit Menschengedenken. Meist leben ihre Geschichten von Trennung und Wiederfinden, von Feindschaft oder Verwechslung. Jeder kennt Romulus und Remus, Jakob und Esau, die Kessler-Zwillinge, Kästners doppeltes Lottchen. Im 18. Jahrhundert wurden Frankreichs Theater von Zwillings-Lustspielen überschwemmt.

Zur besten Sendezeit läuft eine dreistündige Twin-Show.

Die Zwillingsforschung als Disziplin der Humangenetik wurde von einem Cousin Darwins begründet, sie macht es möglich, wissenschaftlich fundiert den Unterschied zwischen nature und nurture auszumachen, zwischen Anlage und Erziehung. Obwohl wir mit unseren zweieiigen Kindern keinen echten Mythos-Anspruch haben, schalten wir an einem Samstagabend, Lou und Rio liegen im Bett, den Fernseher ein. Zur besten Sendezeit läuft eine dreistündige Twin-Show.

Dutzende Paare vor goldener Kulisse, identisch aussehend und für die Gelegenheit identisch gekleidet. An diesen Show-Kandidaten werden Experimente von Soziologen, Psychologen und Medizinern ausgeführt. Einmal sollen die Geschwister, eine Sichtblende zwischen sich, je ein Osterei schmücken, zur Auswahl stehen vier Motive. Werden sie dasselbe wählen? Das Ergebnis ist enttäuschend, mal ja, mal nein. Der Soziologe sagt hinterher: "Was die mit den Ostereiern machen, ist uns eigentlich ganz egal. Wir wollen wissen, wie sie den Arbeitsplatz hinterlassen."

Zwillinge scheinen ihn herauszufordern, den besonderen Blick. Wir hatten ihn zuerst auch. Dankenswerterweise hat meine Frauenärztin ­ Kal, der Zwillingsvater, ist Franzose und nennt sie nur Ewa-Marie, weil der Nachname ihm zu kompliziert ist ­ direkt hinterm Ausgang ihrer Praxis eine Bank aufgestellt. Dort setzten wir uns damals erst mal hin mit dem Sonographieausdruck, auf dem zwei sehr unterschiedlich große, schwarze Höhlen dargestellt waren, die unsere Kinder werden sollten. Wir umarmten uns fest, prüfend, in den Gefühlen des anderen keinen Fehltritt zu tun. Zwillinge...

Die Reaktionen waren fast immer dieselben. Die Eltern, die meisten Freunde, die Bekannten, Verwandten, zumindest hier in Deutschland, dem Land, in dem man zwar mehr Deutsche, aber nicht so gern mehr Kinder will: "Oh Gott." Eine Frau erzählte mir, ihre Schwester habe irgendwann aufgehört mitzuteilen, dass sie Zwillinge bekommen würde. Sie war es leid, sich gegen die Bedenken, die sie selbst zuweilen quälten, mit unbeugsamer Laune behaupten zu müssen. Ich hielt es schließlich ebenso.

Ein ungeblümter, nicht türkisfarbener Kinderwagen für zwei: 800 Euro

In Westafrika, wo ich im schon sichtbaren vierten Monat für eine Reportage unterwegs war, ging es mir gut: Zwillinge ­ die Nachricht wurde dort aufgenommen wie hierzulande die von einem Job im BMW-Aufsichtsrat. Eine Gewerkschaftsführerin sagte mir: "Dafür habe ich immer gebetet, aber Gott hat es nicht gewollt." Dann flüsterte sie meinem Bauch zu: "Reichtum und Schönheit!", bevor wir das Interview fortsetzten. Ein paar Wochen später, in Hamburg, war "die Kinder" zu sagen schon so selbstverständlich, dass uns Paare mit Einzelkindern geradezu kahl erschienen. Die Realität allerdings kam nackt daher: Ein ungeblümter, nicht türkisfarbener Kinderwagen für zwei würde neu 800 Euro kosten. Ohne Zubehör.

Ewa-Marie betätigte sich als Cheerleader. Sie feuerte uns an, noch eine Woche und noch eine Woche durchzuhalten ­ auch wenn alle meinen, Zwillinge kommen grundsätzlich früher. "Die Arbeit, die Sie jetzt haben, haben Sie später nicht mehr!", war ihr Credo. Wir fuhren erst einen Tag vor dem errechneten Geburtstermin ins Krankenhaus. Der Taxifahrer scheuchte uns aus dem Auto: "Der Storchenweg, der ist umsonst!" Lou erschien, trotz magerer zwei Kilo, gesund auf der Welt und zum Äußersten entschlossen -­ daran ließ ihre schrumplige Miene keinen Zweifel. Rio brachte fast das Doppelte auf die Waage, und so entsprachen sie folgsam der Statistik, die sagt: Im Mutterbauch ernährt sich meistens ein Zwilling auf Kosten des anderen.

Die Ärztin aus dem Kreißsaal begegnete mir am nächsten Tag auf dem Flur und sprach zu meiner Tochter: "Du hast mir eine Menge graue Haare bereitet." Die Raumpflegerin verriet, dass dies die erste Zwillingsgeburt seit Jahren war. Der Kinderarzt meinte, Zwillinge seien eben immer etwas Besonderes. Alle waren aufgeregt. Wir nahmen die beiden mit nach Hause.

Zwei Flaschen pro Mahlzeit. Zwei Windeln wechseln, viermal am Tag. Zwei Arme, die, wenn sie zwei Kinder halten, ausgelastet sind. Ein Kopf, der in tausend Stücke springen möchte. Ein Herz, das sich willig verdoppelt. Nächte voller Abwechslung: In den ersten Monaten weckten sie uns um 22 Uhr, um 1 Uhr, um 4, um 7. Wir waren sehr müde, aber das elterliche Adrenalin versorgte uns mit Gleichmut, meistens. Zum Glück hatten wir schon ältere Kinder. Ohne allzu viel Mitgefühl also gaben wir den Babys zu verstehen, dass sie ihre Schlafenszeiten synchronisieren möchten. Sie taten es brav und bald.

Ich finde das Leben mit den beiden gar nicht so schwierig wie gedacht

Ich erinnerte mich an die erste Zeit mit Mingo, der heute elf ist. An Sekundenschlaf im Büro, an ohnmachtsgleiche Tage. Wie konnte das bei nur einem Kind so anstrengend sein. Ich dachte auch an meine Studienzeit, als ich nebenher in einem Café kellnerte: Im Winter zog man nach der Schicht vollkommen erschöpft die Schürze aus. Im Sommer, wenn auf der Terrasse zusätzliche 30 Gäste saßen, konnte man sich nicht mehr vorstellen, was im Winter eigentlich so anstrengend gewesen war. Hochaufgerüstet also gegen Befürchter, medizinische Warner und sonstige Oh-Gott-Rufer finde ich das Leben mit den beiden gar nicht so schwierig wie gedacht. Zwillinge sind der Sommer, aber mit Ansage.

Verwechslung ist bei Zweieiigen nicht möglich. Lou war ein Häuflein zarter Knochen, auf denen sich kraft ihrer Entschlossenheit schnell winzige, aber stahlharte Muskeln bildeten. Unter diesen blauen, ernsten Augen wollten gar keine Bäckchen wachsen, so dünn war sie. Wie eine Minifrau sah sie schon aus, während sie verzweifelt Gewicht aufholte. Rio dagegen streckte seine schinkendicken Beine gerne im Bett aus und wartete ab, was das Leben so bringen mochte, und wenn es nichts brachte, lächelte er trotzdem.

Der Zwillingsmythos war stärker. Jeder Besucher wollte sehen, wie ähnlich die beiden sich seien. Wir verteilten inzwischen die Rollen, halb unbewusst, halb ironisch, nach Vater-Tochter und Mutter-Sohn. Kal war ganz einfach geduldiger mit Lou, wenn ihr Lebenshunger in Unruhe umschlug, oder, wie er es ausdrückte: "la tourne au vinaigre ­- der Wein verwandelt sich in Essig."

Nie fand ich es so traurig, nur zwei Arme zu haben. Wenn ich Rio hochhebe, krabbelt Lou an meine Füße und stößt ihren neuen Lieblingslaut aus, ein tiefes Knurren. Nehme ich sie hoch, legt Rio den Kopf weit in den Nacken und sieht mich stumm an, ohne sich zu beschweren, und das ist fast noch schlimmer. Noch unzulänglicher als der Körper ist die Zeit. Wie soll sie für Beruf, Familie, Essen, Waschen und die seit Monaten nicht mehr angerufenen Freunde reichen und dann auch noch zweimal für Spielen, zweimal für Toben, zweimal für Buch-Durchblättern? Also müssen Lou und Rio immer alles zusammen machen, obwohl uns die Zwillingsexperten mahnen, die beiden zu Individuen zu erziehen.

Mit drei Monaten beginnen sie, sich anzulächeln und zu spielen. Noch sind ihnen die eigenen Hände und Füße fremder als der jeweils andere. Sie liegen auf Kissen bäuchlings einander gegenüber und können noch nicht viel, außer die Köpfe zu heben. Lou hebt also die Stirn und senkt sie wieder, hebt und senkt, und Rio bricht bei diesem Anblick in wildes Kichern aus. Manchmal sitzen wir vor den beiden wie im Kino. Die Natur hat mitgedacht und die beiden mit komplementären Temperamenten ausgestattet. Lou, ewig ungeduldig und fast forward, zieht sich schon mit sechs Monaten überall zum Stehen hoch. Rio braucht seine Zeit. Als er sich zwei Monate später schließlich zum ersten Mal aufrichtet, zeigt seine triumphierende Miene, wie sehr er mit sich zufrieden ist.

Im Flur, dem unbekannten Terrain, verbrüdert man sich besser. Einer dreht sich nach dem anderen um: Bist du da? Eines Montags um elf überkrabbeln sie hintereinander, wie zwei schwankende Karavellen, die Schwelle zur Küche. Lou schaut zu Rio und wippt herausfordernd auf den Knien. Sie ruft laut: "Aaahhh!" Er lacht und rückt näher. Bald kreisen sie rasend umeinander, jubelnd, begeistert, diesen Ort gemeinsam erobert zu haben. Noch tagelang kichern sie jedes Mal synchron, wenn sie auf allen vieren den blauen Küchenboden touchieren. Kurz darauf liegt eine Sendung im Briefkasten, ein "Elternbrief". Auf Seite drei sind Adressen von Kindergruppen aufgelistet, Fun und Action für Babys im Krabbelalter. Besorgt sehen wir uns an: Kein einziges Mal sind wir auf die Idee gekommen, dass wir mit den beiden andere Kinder besuchen könnten. Schuldbewusstsein, die Basslinie elterlichen Daseins, verdoppelt ihren Pegel.

Wer Zwillinge bekommt, kann mit doppelt so vielen Geschenken rechnen.

Wer Zwillinge bekommt, kann mit doppelt so vielen Geschenken rechnen. Meist zwei identische, zumindest ähnliche Spielzeuge oder Kleidungsstücke. Mit doppelt so viel Kindergeld. Mit Ebay-Seiten, auf denen gleichfarbige Teller als "Zwillingszubehör" versteigert werden. Mit jeder Menge bizarrer Statistiken. Die Häufigkeit der Doppelgeburten variiert laut Forschung in den verschiedenen Kontinenten und Ländern. In Schweden kommen 8,5 Zwillingsgeburten auf tausend Geburten, in Deutschland 8, in Spanien nur 6. Die größten Chancen, Zwillinge zu bekommen, so berichtet die Forscherin Elisabeth Bryan, hat eine 40-jährige Nigerianerin mit fünf Kindern, die geringsten eine 20-jährige Japanerin, die zum ersten Mal schwanger ist.

Abends sitzen wir im Wohnzimmer und beginnen, die innere Erledigungsliste abzuhaken, dann sagt Kal: "Schlafen sie?" Ich antworte: "Ja." Ein Weilchen herrscht erschöpftes Schweigen. Kal setzt sich ans Notebook, ich an den Schreibtisch. Kal sagt: "Lou hat heute eine ganze Banane gegessen." Ich antworte: "Wirklich?", und dann: "Ach, übrigens, ich habe heute die Bilder abgeholt." Und während die beiden selig schlummern, uns endlich etwas Zeit und Ruhe zugestehen, sitzen wir da und schauen uns Fotos an, auf denen nichts anderes zu sehen ist als unsere Kinder.

Der Unterschied zwischen uns und denen, die keine Zwillinge haben, ist eigentlich nur, dass wir es nicht in den Mund nehmen, das Wort. Es ist ein Wort für Erklärungen, für Produkte und für die Wissenschaft. Für uns heißen sie: die Babys, die Kinder oder eben Lou und Rio, aber niemals kämen wir auf die Idee zu sagen: die Zwillinge.

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