In Fällen von sexuellem Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter muss die Kirche aus Sicht des evangelischen Kirchenjuristen Rainer Mainusch die Täter zur Not auch gegen den Willen der Opfer anzeigen.
10.10.2018

Die Kirche müsse bedenken, dass es auch andere Betroffene geben könne und weitere Menschen gefährdet sein könnten, sagte Mainusch dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir können nicht von vornherein sagen: Wenn ein Opfer kein Strafverfahren wünscht, sehen wir davon ab, die Staatsanwaltschaft einzuschalten."

Geboten sei vielmehr absolute Transparenz. Nur so könne Aufklärung geleistet und verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden, sagte Mainusch, Oberlandeskirchenrat der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

Datenschutzrechtliche Bedenken, ob ein Arbeitgeber Personalakten von sich aus staatlichen Ermittlern überlassen könne, ließ der Jurist nicht gelten. Die staatlichen Regelungen zur Strafverfolgung ließen auch nach kirchlichem Recht eine Übermittlung von Daten zu. Außerdem betonte Mainusch: "Die Kirchen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Als solche stehen sie in einer besonderen Verantwortung, den Rechtsstaat bei der Strafverfolgung zu unterstützen, wenn kirchliche Mitarbeitende als Täter verdächtigt werden."

108 Fälle von sexualisierter Gewalt

Im Skandal um den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche hatte Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) mehr Aufklärung gefordert. Nach einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Studie sollen zwischen 1946 und 2014 insgesamt 1.670 katholische Kleriker 3.677 meist männliche Minderjährige sexuell missbraucht haben. In der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, die drei Viertel Niedersachsens umfasst, sind laut Mainusch bislang 108 Fälle von sexualisierter Gewalt aus demselben Zeitraum bekannt. Insgesamt 98 Fälle hätten sich in diakonischen Einrichtungen ereignet.

Der Jurist erinnerte daran, dass nach dem Strafgesetzbuch eine strafbare sexuelle Handlung vorliegt, wenn sie von einiger Erheblichkeit ist. Nur wenn diese Schwelle "offenkundig unterschritten" werde, könne auf eine Anzeige verzichtet werden. Dies könne etwa bei Jugendfreizeiten der Fall sein, wenn sich Minderjährige durch Berührungen gerade erst volljähriger Betreuer belästigt fühlten. In solchen Fallen sei es wichtiger, das Jugendamt einzuschalten oder die Täter zu ermutigen, sich selbst anzuzeigen.

"Wo auch nur ein Anflug von Zweifel besteht, ob eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung vorliegen könnte, sollte der Fall zur Anzeige gebracht werden", betonte Mainusch. Keinen Sinn ergebe eine Anzeige allerdings, wenn die verdächtige Person bereits gestorben oder die staatliche Verjährungsfrist offenkundig abgelaufen sei. In solchen Fälle werde die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln.

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