Peterskirche, Leipzig, Freitag, 17 Uhr:
Rot-blau-grün-gelb leuchtet die Abendsonne durch die Fensterrosetten. Übers hallenartige Kirchenschiff, von Bankreihen befreit, hat man paarweise Stühle verteilt. Dazwischen: Holzkisten ohne Boden, auf der Seite liegend, jede mit einer Kerze drauf. Meterhohe moderne gelb-schwarze Fresken rechts und links vom Chor deuten Menschenpaare an. Mit den grauen Zementausbesserungen auf weißem Putz im Rippengewölbe hat die neugotische Peterskirche einen besonderen Charme.
Burkhard Weitz
Heute ist "Klagezeit", eine Dreiviertelstunde, in der Leipziger Bürgerinnen und Bürger "ihrer Ratlosigkeit Ausdruck geben" – wie Pastorin Marianne Feydt, Seelsorgerin am St. Elisabeth-Krankenhaus, in ihren Eingangsworten formuliert – "in der Hoffnung, dass Kraft darin liegt, einander zuzuhören".
Etwa 30 Menschen sitzen um 17 Uhr auf ihren Plätzen. Zum Wohlklang des Orgelvorspiels quietscht die Eingangstür, trappeln Schritte, kratzen Stühle auf dem Steinboden. Nachzügler. Ute Ellinger, Seelsorgerin am Diakonissenkrankenhaus, heißt die Gemeinde nach den Eingangsworten ihrer Kollegin willkommen, "hier und im Livestream". Ein Pfleger aus ihrer Klinik und eine Mitarbeiterin aus der Leipziger Obdachlosenarbeit sollen heute ihre Corona-Klage vortragen.
Die Klage einfach mal stehen lassen
Der Pfleger erzählt, wie er morgens am 24. Dezember auf der Corona-Station in die "müden, resignierten Gesichter" von der Nachtschicht blickte. Wie er das Telefonat eines über 80-jährigen Paares vermittelt, drei Tage vor dem Tod des Mannes. Wie ihn Heiligabend die Gedanken an die Station nicht loslassen.
Die andere Klagende erzählt, wie hart der Lockdown Obdachlose trifft. Sie können nicht betteln, keine Pfandflaschen sammeln. Kleiderwäsche und Körperpflege entfallen oft tagelang. Beide legen einen Stein auf einen kleinen Ziegelhaufen links vom Altar und setzen sich. Auf jeden Bericht folgt eine Minute Schweigen, Tauben gurren, Autos rauschen vorbei. Einmal sägt das Türquietschen durch die Stille. Dann: "Herr, erbarme dich".
Ein exquisiter Tenor trägt herzerwärmend den Bachchoral "Vergiss mein nicht, mein allerliebster Gott" vor. Nun darf die Gemeinde ihre Klagen auf kleinen Zettelchen in die Ziegelsteine stecken, die "Klagemauer". Vier ältere Menschen gehen nach vorn. Nach dem Segen verzaubert der Tenor noch mit einem barocken Strophenlied. Und schon ziehen die Pastorinnen schweigend durch den Mittelgang hinaus.