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Niemandsland am Elbestrand, Jagel in der Prignitz, Sonntag 14 Uhr: Was für eine Idylle. Die Schafe weiden, Radfahrer lassen sich im Gras am weißen Festzelt nieder. Hier stand vor 30 Jahren eine nahezu unüberwindbare Grenzanlage. Heute wird gefeiert: dass sie weg ist. Der Evangelische Pfarrsprengel Lenzen-Lanz-Seedorf hat zu einem Festgottesdienst im ehemaligen Niemandsland auf den Elbdeich eingeladen.
Die Elbe fließt träge dahin. Vom Brandenburger Ufer aus sieht man auf zwei Bundesländer: Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Hinterm Deich liegt der kleine Friedhof der Ortschaft Jagel, jahrzehntelang einer der bestgeschützten Friedhöfe Deutschlands. Wer ihn betreten wollte, wurde streng kontrolliert.
Pfarrer Wolfgang Nier lässt aus einem Lautsprecher die Glocken läuten. Das Festzelt ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten der 150 Gottesdienstbesucher haben Teilung und Wiedervereinigung noch erlebt.
Nicht jeder in der Region jubelte damals
Fototafeln an den Zeltwänden zeigen Türme, Stacheldraht – und das erste Loch im Zaun. Pfarrer Nier lockert seine Gemeinde mit einer lustigen Idee auf. Zwei Gruppen sprechen Psalm 67 ("Gott sei uns gnädig") im Wechsel: Diejenigen beginnen, die nach der Maueröffnung zuerst nach Lüneburg gefahren sind. Dann sprechen diejenigen, die es erst nach West-Berlin zog. Die Gruppen sind, der Lautstärke nach zu urteilen, etwa gleich groß.
Nicht jeder in der Region jubelte damals. Viele dienten bei Grenztruppe oder Volkspolizei oder waren überzeugte Parteikader. Pfarrer Nier erwähnt nicht den jungen Hans Georg Lemme. Er hatte hier 1974 versucht, durch die Elbe zu schwimmen. Grenzsoldaten überfuhren ihn mit einem Schnellboot. Er ertrank. Nier redet über Erwartungen, die mit dem Wegfall der Mauer bei vielen aufkamen: einen Opel fahren, auf die Seychellen fliegen, volle Regale im Supermarkt. "Viele hatten Erwartungen, die sich nicht erfüllten."
Der Predigttext (Apostelgeschichte 3, 1–10) passt: Ein Gelähmter bittet um Almosen. Jesus gibt ihm kein Geld, dafür aber die Kraft, selbst zu gehen.
"Wir danken für die Freiheit", sagt Nier. Er hofft, "dass alle damit verantwortungsvoll umgehen." An diesem Ort ist alles symbolisch aufgeladen. Deshalb wird hier auch jede und jeder das Segenslied "Vertraut den neuen Wegen" unterschiedlich deuten:
"Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land
ist hell und weit."