Papst Leo XIV. begrüßt Menschen verschiedener Religionen während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Verkündung der Konzilserklärung "Nostra aetate" im Vatikan, 28.10.2025
Papst Leo XIV. begrüßt Menschen verschiedener Religionen während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Verkündung der Konzilserklärung "Nostra aetate" im Vatikan, 28.10.2025
FABIO FRUSTACI/EPA
Religionsfreiheit
Wenn Wahrheit zur Waffe wird
Welches Kriterium entscheidet über Nähe zu Gott? Es ist unsinnig, über eine vermeintlich absolute Wahrheit zu streiten. Es kommt auf etwas Anderes an
Peter Grewer
10.11.2025
4Min

Die Geschichte vom Streit zwischen den zwei Brüdern Kain und Abel in der Bibel (Genesis 4,1–8), Qabil und Habil im Koran (Koran 5,27–31) wirkt auf den ersten Blick schlicht. Zwei Brüder bringen Gott je ein Opfer. Abel opfert die besten Tiere seiner Herde, Kain bringt Früchte vom Feld. Gott nimmt Abels Opfer an, das von Kain aber nicht. Warum?

Die Bibel deutet es als Frage der inneren Haltung: Abel gibt das Beste, was er hat. Kain hingegen scheint es nur aus Pflicht zu tun. Diese göttliche Entscheidung, nur eines der beiden Opfer anzunehmen, löst Eifersucht und Wut aus. Kain fühlt sich übergangen, verletzt und erschlägt seinen Bruder. Doch bei den Opfergaben in dieser Erzählung geht es nicht nur darum, wer die besseren, wertigeren Lebensmittel darbringt. Dahinter steht die Frage, wessen Hingabe wahrhaft ist, wer Gott näher scheint, wessen religiöse Praxis "richtig" ist.

Die Geschichte zeigt, wie gefährlich es wird, wenn die Frage nach der Wahrheit mit der Frage nach dem eigenen Selbstwert verschmilzt. Es gibt in dieser Geschichte keinen Sieger. Sobald Menschen anfangen, um Gott zu streiten, verlieren am Ende alle. Diese Einsicht stellt eine theologisch tiefgreifende Frage: Was geschieht, wenn Religionen ihren Selbstwert aus dem Anspruch ableiten, allein im Besitz der Wahrheit zu sein?

In den vergangenen Wochen habe ich an mehreren Veranstaltungen zum Jubiläum der Schrift "Nostra Aetate" teilgenommen, jenem bahnbrechenden Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, das vor 60 Jahren den Weg für einen neuen Umgang zwischen den Religionen eröffnete. Zum ersten Mal bekannte sich damals die katholische Kirche dazu, dass auch in anderen Religionen Strahlen göttlicher Wahrheit zu finden seien. Für den Islam wurde festgehalten, dass Muslime den einen barmherzigen Schöpfer anbeten.

"Nostra Aetate" war ein Befreiungsschlag aus dem Korsett eines religiösen Exklusivismus. Und gerade deshalb irritierte mich manches, was ich in den heutigen Veranstaltungen erlebte: Kaum jemand wagte es, die eigentlichen theologischen Herausforderungen anzusprechen, jene Punkte, an denen Exklusivismen, Absolutheitsansprüche und gegenseitige Abwertungen beginnen. Dialog ohne diese Fragen bleibt freundlich, aber folgenlos. Genau diese Tiefe aber hatte "Nostra Aetate" einst eingefordert.

Dass die Religionsgeschichte dennoch immer wieder anders verlief, hat viel damit zu tun, dass Religion genutzt wurde und wird, um politische Interessen zu legitimieren. Auch heute: Die fundamentalistisch-islamische Hamas instrumentalisiert religiöse Sprache, um Gewalt zu rechtfertigen. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill in Moskau stützt mit theologischen Argumenten eine nationale Kriegsagenda. Wahrheit wird zur Waffe, Glaube zur Munition.

Besonders herausfordernd wird es für den Islam. In vielen theologischen Schulen steht bis heute der Anspruch, die letzte und abschließende Wahrheit zu vertreten. Das kann - nicht bei allen, aber bei manchen - das Gefühl befördern, religiös oder sogar sozial "über" anderen zu stehen. Die theologische Konsequenz lautet dann: Menschen, die nicht Muslime sind, bleiben in der Ewigkeit von Gottes Gnade und Barmherzigkeit ausgeschlossen, selbst wenn sie ein Leben voller Güte und Gerechtigkeit führen. Ihnen gebühren in der Gesellschaft nicht dieselben Rechte wie Muslimen.

Aber wie ist ein Gott zu verstehen, der Menschen allein wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit bestraft? Ist das ein Gottesbild der Barmherzigkeit, oder eines, das mehr über menschliche Machtinteressen erzählt als über göttliche Wirklichkeit?

Diese Miniatur im Topkapı-Palastmuseum in Istanbul zeigt die Engel, die sich alle vor Adam verneigen, außer Iblis

Ein Blick auf eine andere Urszene des Korans hilft weiter. Dort heißt es, dass Gott den Engeln befiehlt, sich vor Adam niederzuwerfen, nicht als Akt der Anbetung, sondern als symbolische Anerkennung der Würde des Menschen. Alle Engel folgen diesem Befehl, nur einer nicht: Iblis. Er lehnt nicht Gott ab, sondern den Menschen. Und genau diese verweigerte Anerkennung bringt ihn zu Fall. Nicht mangelnde Frömmigkeit trennt ihn von Gott, sondern die Unfähigkeit, die Würde des Menschen zu achten. Diese Erzählung bringt eine klare Botschaft hervor: Nicht die Verteidigung absoluter Wahrheit entscheidet über Nähe zu Gott, sondern die Anerkennung der Würde des Menschen. Die Engel bleiben Engel, weil sie diese Würde sehen. Iblis verliert alles, weil er sie verweigert.

Wenn Religionen im 21. Jahrhundert in einer zunehmend polarisierten Welt glaubwürdig sein wolle, dann müssen sie an diesem Punkt ansetzen. Sie müssen lernen, nicht um Wahrheit zu kämpfen, sondern um die Würde des Menschen. Wahrheit, die zur Waffe wird, zerstört. Würde, die anerkannt wird, verbindet.

Ein aufrichtiger interreligiöser Dialog darf deshalb nicht bei netten Gesten bleiben. Er braucht Mut zur ehrlichen Konfrontation: zu fragen, wo eigene Traditionen Menschen ausschließen, abwerten oder entwürdigen. Nur wenn diese Fragen offen ausgesprochen werden, entsteht ein Dialog, der Substanz hat, ein Dialog, der die Geschichte von Kain und Abel ernst nimmt, der "Nostra Aetate" ernst nimmt, und der den Menschen in den Mittelpunkt stellt, nicht das Bedürfnis nach religiösem Triumph.

Als muslimischer Theologe wünsche ich mir daher ein muslimisches "Nostra Aetate", einen mutigen, selbstkritischen Schritt, der jene theologischen Positionen neu bedenkt, die nicht mehr in unsere Zeit passen, und der den Weg öffnet für einen Glauben, der die Würde des Menschen über jeden Anspruch auf absolute Wahrheit stellt. Weitere offene Punkte, die im Rahmen eines solchen innerislamischen Erneuerungsprozesses bedacht werden müssten, sind Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Diversität sowie eine historisch-kritische Lesart des Korans.

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Kolumne

Mouhanad Khorchide

Für den islamischen Theologen Mouhanad Khorchide ist die Freiheit des Glaubens sehr wichtig. Er tritt ein für einen Glauben, der die Menschen frei macht und die Liebe Gottes vermittelt. Für chrismon blickt er auf Gott und die Welt, mal religiös, mal politisch, immer pointiert.