Liebe in der Familie: Andrea Hensgen über Jakob und Esau
Der verhasste Lieblingssohn
Andrea Hensgen hätte auch gern ihrem verzogenen, vorgezogenen Bruder einen Hieb versetzt. Wie gut, dass Kain es für sie getan hat
23.03.2023
"Als nun Jakob seine Augen erhob, sah er Esau herankommen und vierhundert Mann mit ihm. Da verteilte er die Kinder auf Lea und Rahel und die beiden Mägde, und er stellte die beiden Mägde mit ihren Kindern voran, dahinter Lea mit ihren Kindern, Rahel aber mit Josef zuletzt." 1. Mose, 33, 1-2

Geschieht es dem Lieblingssohn doch nur zu Recht, dass ihn die Eifersucht des Bruders trifft! Kain und Abel, das war so richtig nach meinem Geschmack, und zwischen den Märchen und der Bibel gab es für mich als Kind keinen großen Unterschied. Strafe für begangenes Unrecht – hätte Gott Abels Opfer nicht wohlgefällig angeschaut und Kains Gaben ignoriert, stünde kein Brudermord am Anfang des Menschengeschlechts.

Die Geschichten des Alten Testaments jagten mir ­keinen Schrecken ein, sondern erfüllten ein tiefes ­Bedürfnis nach Genugtuung. Was ich mich nie getraut ­hätte, nämlich meinem Bruder einen ordentlichen Hieb zu versetzen, das führte Kain für mich aus, mein heimlicher Stellvertreter. Denn wenn man wie ich unter einem stets bevorzugten Bruder litt, gab es kein Zögern, auf welcher Seite man stand in all diesen Geschichten des Bruderstreits. Voll ­Inbrunst auf der Seite desjenigen, der nie so viel Liebe von Gott, den Eltern oder der Mutter bekam wie der verwöhnte Bruder.

Rebekka trieb es am wüstesten, verleitete den ­geliebten Sohn Jakob dazu, den alten, blinden Vater zu täuschen und half ihm hinterlistig dabei, sich den Segen des ­Erstgeborenen zu erschleichen. Esau, der Ältere, ging leer aus und schwor voller Grimm, Jakob zu töten. Wieder wusste Rebekka einen Ausweg und sandte Jakob zu ihrem Bruder Laban, um Esaus Rache zu entgehen.

Privat

Andrea Hensgen

Andrea Hensgen, geboren 1959, ist Schriftstellerin und schreibt für ­Erwachsene und ­Kinder. 2022 ­erschien "Ein Käfig ging einen ­Vogel ­suchen" (Knese­beck) und 2021 "­Nora ­Budweis" ­(Lindemanns).

Von Anbeginn an lag alle Gunst auf Jakob, dem Ge­sitteten. Er lebte im Zelt, während der arme Esau, rötlich und behaart, pelzig wie ein Tier, sich draußen herumtrieb, auf dem freien Feld. Kultur gegen ungestüme Natur – solch ein verzärteltes Kerlchen war mein Bruder gewesen, las in seinen Büchern, während wir uns im Wald wilde Schlachten lieferten und uns mit Tannenzapfen attackierten. Esau war einer von uns, Jakob hockte daheim hinterm Ofen.

Und so kam es, wie es kommen musste, in meinem Blick auf die Geschichte. Der überbehütete Bruder wurde zum verlässlichen Problemfall meiner Eltern; um mich ­kümmerte sich keiner, ich sorgte schon für mich. Stark und souverän, so wie Esau am Ende der Geschichte Jakob entgegen reitet, mit vierhundert Mann.

Jakob weiß um seine Schuld und will den Bruder versöhnlich stimmen, schickt ihm den Bestand eines Großbauernhofs entgegen, eine Unmenge von Ziegen, Schafen, Kamelen und ­Eselinnen mitsamt ihren Füllen und dazu Kühe und Stiere.
Und wie beantwortet Esau diese demütige Geste? Großmütig verzeiht er dem Bruder und weist die zugedachten Geschenke zurück – ist er doch aus eigener Kraft ­wohlhabend geworden, ohne mütterlichen Beistand. So weit, so gut, mit Esau konnte ich zufrieden sein.

Aber statt auf einen solchen Großmut zu hoffen, hatte sich Jakob auf einen Kampf vorbereitet und einen rachelüsternen Bruder erwartet.

Und nun geschieht die Geste, die mich jedes Mal ­irritiert, wenn ich die Geschichte lese. "Als nun Jakob seine Augen erhob, sah er Esau herankommen und vierhundert Mann mit ihm. Da verteilte er die Kinder auf Lea und ­Rahel und die beiden Mägde, und er stellte die beiden Mägde mit ­ihren Kindern voran, dahinter Lea mit ihren Kindern, ­Rahel aber mit Josef zuletzt." (1. Mose 33,1–2)

In seiner Furcht vor dem Bruder versammelt Jakob die ­Seinen um sich, in der ersten Reihe die Mägde und ihre Kinder, dahinter Lea mit den ihrigen und zuletzt Rahel und ihren Sohn. Alle Kinder hat Jakob gezeugt, aber von den Frauen nur Rahel geliebt. Josef, ihr Sohn, ist sein liebster.

Es rührt mich jedes Mal, und ich zögere, ob ich es verurteilen soll, wie Jakob die einen dem vermeintlichen Feind ausliefert und die anderen auf deren Kosten beschützt. Es ist eine zärtliche Liebe, Jakob, der bevorzugte Sohn, hat viel ertragen und erlitten, um sich mit Rahel verbinden zu dürfen. Sie steht ihm von all diesen Frauen am nächsten. Was hülfe es Lea und ihren, Jakobs Söhnen, drängten sie sich nach hinten und versuchten, sich den geschützten Platz, den Platz in Jakobs Herzen zu erzwingen, als gäbe es ein Recht auf gleich verteilte Liebe?

Bibelzitat

"Als nun Jakob seine Augen erhob, sah er Esau herankommen und vierhundert Mann mit ihm. Da verteilte er die Kinder auf Lea und Rahel und die beiden Mägde, und er stellte die beiden Mägde mit ihren Kindern voran, dahinter Lea mit ihren Kindern, Rahel aber mit Josef zuletzt." 1. Mose, 33, 1-2