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Zwei Männer auf einer Landstraße, tief deprimiert und verzweifelt. Sie haben alles verloren, Lebenssinn, Orientierung, Reputation, den Lebensmittelpunkt. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Was suchen sie in dem Dorf namens Emmaus, das am Wege liegt? Nichts wird jemals wieder Sinn machen nach dem Verlust, den sie erlitten haben. Sie befinden sich auf dem Tiefpunkt ihrer Existenz . . .
Hinter sich hören sie Schritte. Jemand nähert sich und schließt sich ihnen an. Sie sind nicht in der Stimmung, Bekanntschaften zu machen. Hat dieser Mann mitgehört, worüber sie sprachen? Sie sind nicht erpicht auf einen Zeugen der Niederlage, die sie erlebt haben. Will er sie aushorchen? Anzeigen? Auch am dritten Tag nach dem Tod ihres Meisters Jesus sind sie nicht sicher, ob nicht auch nach ihnen gefahndet wird und auch ihnen die Kreuzigung droht.
Sibylle Knauss
Was habt ihr eigentlich, fragt der Unbekannte, und es ist schon zu spät, sich herauszureden. Sie erzählen ihm alles. Seltsam: Er scheint besser als sie selbst zu wissen, was geschehen ist. Als sei es ihm geschehen, spricht er davon. Und sie beginnen zu begreifen, ohne noch genau zu wissen, was – da haben sie schon das Dorf erreicht, und über ihrem Gespräch ist es spät geworden. Die beiden sagen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt . . . (Lukas 24,29)
Es gibt Situationen, da bricht die Fassade, die wir gewöhnlich zwischen uns und anderen errichten und hinter der wir verbergen, was uns verletzt, was uns Angst macht, was unsere tiefe Unsicherheit offenbart. Das Kind in uns, das die Dunkelheit fürchtet, will nicht erkannt werden. Es versteckt sich hinter kühler Contenance, denn was es noch mehr fürchtet, ist Zurückweisung.
Mich hat diese Angst ein Leben lang begleitet. Eine spontane Geste, ein Akt der Hilfsbereitschaft, eine Einladung an Fremde – immer musste erst die Angst vor Zurückweisung überwunden werden, bevor ich etwas über die Lippen gebracht habe wie "Bleibe bei uns . . ."
Es ist ein Satz, in dem die alte Angst weicht. Ein Satz, in dem die Sehnsucht danach, getröstet zu werden, sich nicht mehr verbirgt, sondern ausgesprochen wird. Kein großer Geistesblitz, kein Glaubenszeugnis, nur die Aufforderung, zum Abendessen zu bleiben, Versatzstück einer gewöhnlichen Konversation – woher gewinnt er seine Magie und Poesie? Warum ergreift er mich so?
Ein Gedicht von Hugo von Hofmannsthal bringt er in mir zum Klingen, dessen letzte Verse:
Und dennoch sagt der viel, der "Abend" sagt, Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
("Ballade des äußeren Lebens")
Tiefsinn und Trauer – in dem einfachen Satz, dieser Bitte der beiden verzweifelten Männer auf dem Weg nach Emmaus liegen sie in dem Wort "Abend" und teilen sich uns zweitausend Jahre später Lebenden noch mit: Lass uns in der Dunkelheit nicht allein . . . Teil sie mit uns . . . Bleib bei uns!
Die beiden Männer erkennen, dass sie dem auferstandenen Jesus begegnet sind. Sie erkennen es auf dem tiefsten Punkt ihrer Angst und Bedürftigkeit.
Im Aussprechen dieser Bitte löst sich die Erstarrung. Vertrauen wird möglich, der Blick auf das Geschehene weitet sich . . . Und die schlichte Bitte erhält ihre Gültigkeit als eine Anrufung Gottes in Not und Dunkelheit, die ich leise nachspreche, wenn mich die Angst übermannt, die uns Zeitgenossen gemeinsam ist und letztlich in einer Angst vor uns selbst gipfelt – als Ausbeutern unseres Planeten. Eine Angst, die uns blind macht für Lösungen, für zukunftsfähige, pragmatische Strategien und anfällig für die fatalste der Ideologien, den Glauben an eine bevorstehende Apokalypse. Herr, bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Ein Satz, der Raum schafft für das Leben, für Hoffnung und Zukunft.