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Die andere Seite der Schwulen-Emanzipation
Manchmal meint man, das Wort „Aufarbeitung“ nicht mehr hören zu können. Denn zu oft fordern die einen es von den anderen (oder umgekehrt), ohne es als je eigene Aufgabe zu verstehen. Und zu oft bleibt unklar, was mit „Aufarbeitung“ eigentlich gemeint ist.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
09.11.2023

Das Schwule Museum Berlin und das Archiv der deutschen Jugendbewegung haben die dunkle Seite der schwulen Emanzipationsbewegung erforscht und präsentieren ihre Ergebnisse jetzt in einer klugen, konzentrierten Ausstellung. Das ist alles andere als selbstverständlich. Es braucht Mut, um das Hauptnarrativ des eigenen Engagement-Milieus kritisch zu erweitern. Aber es ist notwendig.

Denn eine unselige Allianz von Schwulen und „Pädos“ hat zu lange sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verharmlost, manchmal sogar verklärt und gefördert. In der Dynamik des eigenen Befreiungskampfes und im Gefühl eigener Fortschrittlichkeit wurde nicht bedacht, dass hier lebensnotwendige Grenzen überschritten und elementare Rechte junger Menschen verletzt wurden. Denn wie können „wir“ Böses tun, wenn „wir“ doch die Guten sind? Wie können „wir“ Macht missbrauchen, wo wir doch machtlos sind und verfolgt werden?

Manches Berliner Szene- und Schwulenblatt hat noch einiges aufzuarbeiten

Die Ausstellung untersucht Abgründe in der Lebensreform- und Jugendbewegung, Verirrungen in der Sexualwissenschaft, blinde Flecken in der Schwulenbewegung und Manipulationen von „Pädo“-Aktivisten. Man staunt und erschrickt nachträglich, wie es möglich war, die vollständige Normalisierung von Sex mit Kindern und Jugendlichen zu fordern. Das erinnerte mich an einen ehemaligen Kollegen, der bei der Berliner Alternativen Liste dafür kämpfte, dass sich Schwule und „Pädos“ nicht „auseinanderdividieren“ lassen. Und es erinnerte mich an die unselige Geschichte der Humanistischen Union. Ich wusste aber nicht, wie offen daraus ein Geschäft gemacht worden ist. Manches Berliner Szene- und Schwulenblatt hat noch einiges aufzuarbeiten.

Die Ausstellung zeigt zum Glück auch, dass es frühen Widerstand gab, besonders von dem Sozial- und Sexualwissenschaftler Günter Amendt und Alice Schwarzer. Letztere wird seit einiger Zeit von der LGBT-Szene heftig angegriffen. Da sollten einige vielleicht bedenken, dass sie damals als eine von wenigen richtig lag und sich von der Mehrheit ihres Milieus nicht beirren ließ. Die Erinnerung an ihren Einspruch führt schließlich zu dem Ziel der Ausstellung, die nicht im Historischen bleiben, sondern die Voraussetzung heutiger und zukünftiger Prävention schaffen will. Denn „Aufarbeitung“ ist nur dann geleistet, wenn etwas aus ihr folgt.

Wenn ich mir noch etwas hätte wünschen können, dann einen Blick auf protestantische Entwicklungen und deren Protagonisten (Odenwald! Kentler!). Denn hierzu hatte ich mich in dem von mir herausgegebenen Buch „Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche“ beschäftigt. Da hätte mich die Perspektive des Schwulen Museums interessiert. Aber man soll sich bei einer so gelungenen Ausstellung nicht zu lange damit aufhalten, was fehlt, sondern dankbar für das sein, was jetzt endlich da ist.

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...für diesen Kommentar. Kompliment. Die Natur ist gnadenlos. Sie "beschenkt" uns mit Eigenschaften, ohne zu fragen. Das ist anzunehmen. Sich dafür aber als "subnormal", als Exot, als Paradebeispiel (Show-Demos) zu dekorieren, ist kontraproduktiv. Bei uns ein Dorffest. Ein Ausschank mit der Aufschrift: "WIR FICKEN FÜR DEN FRIEDEN". Peinlich, peinlich! So und ähnlich auch häufig auf Schwulen-Demos. Und sich dann wundern, wenn andere die Stirn runzeln.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur