Frau trägt weißes T-Shirt mit der Aufschfrift 'Sorry if I looked interested. I'm not'. Entschuldigung, wenn ich interessiert schaue. Ich bin es nicht.
Johann Hinrich Claussen interessiert sich fürs Fasten als kulturelles Phänomen, hält aber vom Fasten ansich nicht viel
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Dry January
Ich muss nicht fasten, aber ich könnte!
Viele Menschen fasten im Januar Alkohol, andere in der Passionszeit. Ich halte von beidem nicht so viel. Doch die Freiheit im Verzicht kann eine große Bereicherung sein
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
10.01.2025
4Min

Für viele Menschen fängt die Fastenzeit inzwischen zwei Monate früher an. Sie warten nicht mehr auf den Aschermittwoch am 5. März, um traditionell christlich die Passionszeit mit einer Verzichtsübung zu verbinden.

Sie fangen schon am ersten Tag des neuen Jahres an und trinken den ganzen "trockenen Januar" über keinen Alkohol. Ich meine, gehört zu haben, dass das eine neue Sitte ist, die aus England oder den USA importiert wurde. Sie hat keine religiösen Gründe, sondern ist eine Reaktion auf den übermäßigen Konsum zu Weihnachten und an Silvester.

Das ist ein interessantes festkulturelles Phänomen. Eine vergleichbare Zeitverschiebung kann man seit einigen Jahrzehnten bei Advent und Weihnachten beobachten. Traditionell war der Advent eine stille, bescheidene Zeit ernster Vorbereitung auf dann ein rauschendes Weihnachtsfest mit viel Essen und – im Mittelalter – lautem Klamauk. Längst ist es umgekehrt: Im Advent wird geschlemmt, getrunken und gefeiert, aber gleich vom zweiten Weihnachtstag an werden nur noch Reste gegessen, die Weinflaschen werden zum Altglas gebracht, man macht sich lieber einen Tee, geht in trüber Kälte spazieren und sucht die Ruhe. So ändern sich die Rhythmen des Kirchenjahrs und der säkularen Festkultur.

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Allerdings, jetzt muss ich ein Bekenntnis ablegen, mache ich weder beim alten noch beim neuen Fasten mit. Ich verstehe vor allem den Sinn des "dry January" nicht. Ich habe als Student diese extreme englische Sauferei kennen- und verabscheuen gelernt. Was soll ein einzelner Monat des Verzichts dagegen ausrichten? Vor allem, wenn das Saufen am 1. Februar gleich wieder losgeht?

Wenn man halbwegs gesund und heiter durchs Leben kommen will, lautet das schlichte Rezept: Gutes und maßvolles Essen und Trinken die ganze Zeit über. Dann kann man, wenn es einem schmeckt und Freude bereitet, auch mal ein Genussmittel wie Alkohol, Dessert oder Fleisch zu sich nehmen, aber eben als bewusste, fröhliche Ausnahme. Der schroffe Wechsel von "zu viel" zu "gar nichts" und wieder zurück ergibt für mich keinen Sinn. Deshalb also faste ich nicht: weder im Januar noch in der Passionszeit.

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Doch egal, ob, wann und wie man verzichtet – das eigentliche Thema dahinter ist nicht "Verzicht", sondern "Freiheit". Dazu muss ich einen kleinen Exkurs einlegen. Im vergangenen Herbst hörte ich ein sehr schönes Interview mit dem ehemaligen Kurator des Berliner Stadtmuseums Albrecht Henkys. Mit ihm haben wir im Kulturbüro der EKD einige feine Projekte durchgeführt. In dem Interview wurde er auch auf seine besondere Biografie angesprochen.

Als Pfarrerskind und eigenständige Person durfte er in der DDR nicht studieren, hatte viele normale Entfaltungsmöglichkeiten nicht und ist doch seinen Weg gegangen. Er habe sich dabei aber nicht als Opfer des damaligen Systems erlebt und sehe sich selbst immer noch nicht so. Denn: "Ich habe als wichtiges Erbe meines Vaters gelernt, dass Freiheit auch im Verzicht liegt. Und diese Freiheit habe ich mir genommen." Frei ist, wer in der Lage ist, auf eine Option, eine Chance, ein Privileg zu verzichten, weil er sich dann nicht verbiegen oder einem sozialen Druck beugen muss: "Es war meine Freiheit, Dinge nicht zu tun."

Das ist eine wichtige, aber heute ziemlich unzeitgemäße Haltung. Uns wird antrainiert, dass Freiheit darin bestehen soll, uns durchzusetzen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und sofort zu bekommen, was wir haben wollen: Freiheit als Verzehr. "Verzicht" gilt deshalb vielen Zeitgenossen als Gegenteil von "Freiheit". Das Fasten und das Maßhalten aber zeigen gleichermaßen, dass Freiheit ganz wesentlich in freiwilliger Selbstbeschränkung liegt. Nur indem ich mich frage, was ich wirklich brauche, was mir und anderen guttut, gewinne ich Abstand zu unsinnigen eigenen Impulsen und zu gesellschaftlichen Zumutungen, die mir Unnötiges oder Schädliches aufdrängen.

Dazu passt, was mir zwei Bekannte erzählt haben, die im vergangenen Jahr mit dem Alkohol Schluss gemacht haben. Ihnen war aufgefallen, dass sie zu oft und zu viel getrunken hatten, ohne es besonders zu genießen. Das war einerseits eine schlechte Angewohnheit, andererseits gab es diesen sozialen Druck, einen (und nicht nur einen) mitzutrinken. Jetzt erleben sie eine überraschende Freiheit mit vielen positiven Folgen: Schlaf, Haut, Verdauung, Wohlbefinden – alles ist besser geworden. Haben sie auf etwas verzichtet oder etwas gewonnen?

Egal also, wie trocken man den Januar durchlebt oder wie karg man die Passionszeit gestaltet, entscheidend ist, dass wir ein Bewusstsein dafür gewinnen, welche Freiheit auch im Verzicht liegen kann. Einem Christenmenschen müsste diese Einsicht besonders nahe liegen, aber sie ist kein religiöser Sonderbesitz, sondern schlicht human.

PS: Einen kleinen Werbehinweis für einen guten alten Kollegenfreund möchte ich gern anschließen. Hans-Jürgen Benedict ist ein großer Kenner der Literatur, ein feinsinniger Freund der Kunst und ein geistreicher Theologe. Zudem schreibt er gern. Jetzt hat er ein E-book veröffentlicht, in dem er sich der Kunst der Betrachtung widmet. An wunderbaren Beispielen zeigt er, wie Schriftsteller ihre Erlebnisse mit der bildenden Kunst in Wort fassen. Betrachten statt verzehren – das könnte auch mal das Motto einer Fastenzeit sein (oder des ganzen Lebens).

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur