Familienfoto unseres Autors
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Privat
USA als Vorbild?
Meine Mutter, die USA und ich
Warum schauen wir eigentlich immer so gebannt auf die USA? Bei vielen liegt es daran, wie wir geprägt wurden – so auch bei mir
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
08.11.2024
3Min

Dass unsere Mutter anglophil, US-amerikanophil war, wusste ich schon als Kind. Das ging so weit, dass sie junge Mormonenmissionare, die an der Haustür klingelten, hineinbat, um sich mit ihnen über deren Heimat zu unterhalten. Aber erst nach ihrem Tod im Jahr 2004 habe ich verstanden, warum das so war. In ihren Hinterlassenschaften fand ich einen dicken Stapel Briefe, die sie von 1953 bis 1954 nach Hause geschrieben hat, um der Familie von ihrem Auslandsstudium an der Brown University zu berichten.

Es ist seltsam, der eigenen Mutter als junger Frau zu begegnen. Die wichtigste Person im eigenen Leben – wie wenig hat man von ihr gewusst! Zum Glück konnte ich sie in ihren Briefen neu kennenlernen. 1930 wurde sie geboren, hatte NS-Regime und Krieg in einer bürgerlichen, regimekonformen Familie durchlebt. Ihr Vater war ein ranghoher Militär. Bei Kriegsende war sie ein Teenager, machte Abitur, begann ein Studium, ein Jahr davon in Paris, dann traf sie ein folgenreiches Glück: ein Fulbright-Studium in den USA.

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Sie lässt das zerstörte Deutschland hinter sich, aber auch die eigene Geschichte im NS-Regime. Sie entdeckt die westliche, demokratische, kulturell freiheitliche Moderne. Das verwandelt sie. Ihre Briefe sprühen vor Glück. Sie staunt über die Größe und Vielfalt New Yorks. Sie bewundert den Wohlstand der weißen Amerikaner, bei denen sie zu Gast ist ("So viel Freundlichkeit in diesem Land!"). Sie genießt die Partys, den unverklemmten Umgang zwischen jungen Männern und Frauen. Sie ist stolz auf ihre schnellen Fortschritte im Englischen. Sie nähert sich dem Ideal des "all American girl" an.

Vor allem aber stürzt sie sich in politische Diskussionen, auch wenn sie irgendwie als Diplomatin für ihr Land unterwegs ist und sich Fragen zu Diktatur, Krieg und Judenmord stellen muss. Ein wirklich tiefes, selbstkritisches Nachdenken habe ich in ihren Briefen nicht entdeckt. Vielleicht wäre das zu viel verlangt. Bewegt hat mich aber ihre Lust daran, in den USA frei über alles diskutieren zu können. Zurück in Deutschland wurde sie Journalistin.

Die USA-Begeisterung unserer Mutter hatte Folgen für unsere Kindheit. Davon zeugt ein von ihr geschriebener Zeitungsartikel, den ich in ihren Papieren entdeckt habe.

Sie hatte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland angefangen, als freie Autorin für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben, ohne allerdings das zu ihrem Hauptberuf zu machen. Erschienen ist der Text ein paar Jahre später, nämlich am 19. Dezember 1959 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (auf der letzten Seite der Wochenendbeilage, damals der "Seite für die Frau"). Darin stellt sie einen Erziehungsratgeber vor, auf den sie in den USA gestoßen war: "Baby and Child Care" von Benjamin Spock.

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Während junge Mütter in Deutschland immer noch eine oberflächlich "entbräunte" Version von Johanna Haarers "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" lasen und lernten, dass Kinder mit harter Hand in die Gemeinschaft eingefügt werden müssten, lehrte Spock, dass das Beste für ein Kind ein freundliches Elternhaus sei. Man solle Babys nicht schreien lassen, ihnen keine fixen Essenszeit aufnötigen, unnötiger Zwang sei zu vermeiden, auf Strafen, vor allem auf körperliche Gewalt sei unbedingt zu verzichten, Kinder wüssten schon, was gut für sie sei, sie bräuchten vor allem Zuneigung und Vertrauen – lauter revolutionäre Ansichten für Nachkriegsdeutschland. Ein Apostel antiautoritärer Erziehung war Spock keineswegs, er plädierte für eine gesunde Balance aus Führung und Freiheit.

Die Überschrift des Artikels, in dem meine Mutter darüber schrieb, lautete: "Gehorsam ist kein Lebensziel".

In diesem Geist wurden wir erzogen. Dafür bin ich immer noch dankbar. Das prägt meinen Blick auf die USA immer noch, auch wenn aktuelle Ereignisse ganz andere Gefühle und Gedanken provozieren.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur