Dieser Rat kann eine unverschämte Zumutung sein
15.11.2010

In einem Woody-Allen-Film sagt die Hauptfigur Alvy Singer auf die Frage, ob er denn eine Therapie mache: "Ja, seit 15 Jahren. Ich gebe dem Analytiker noch ein Jahr: Wenn es dann nicht klappt, pilgere ich nach Lourdes." In diesen Sätzen steckt beides, Chance und Grenze dessen, was einem gleichsam auf Schritt und Tritt als Lebenshilfe anempfohlen wird. Gegenüber früheren Generationen haben wir heute tatsächlich einen unschätzbaren Vorteil: Es gibt eine Vielfalt an therapeutischen Möglichkeiten, zu sich und zu anderen zu finden, die eigene Vergangenheit ­ manchmal durchaus schmerzvoll ­ zu verarbeiten und sein Leben auf neue Weise konstruktiv und zuversichtlich zu gestalten.

Eifersucht? Prüfungsangst? Drei gescheiterte Beziehung hintereinander? "Mach doch mal 'ne Therapie!"

Gelegentlich kann es einen jedoch gewaltig ärgern, wenn andere Menschen in ihren hobbypsychologischen Kenntnissen kramen und mit ungehemmter Deutungswut Verhaltensweisen ihres Gegenübers interpretieren. "Ich glaube, du solltest mal deine Vaterbeziehung überdenken", heißt es, und in den nächsten Minuten ist man den selbst ernannten Experten und ihrer bestenfalls aus populärwissenschaftlichen Büchern gewonnenen Analyse nahezu hilflos ausgeliefert. Dazu kommt die weit verbreitete Lust, bei jeder kleinen Schwierigkeit im Leben sofort an den nächsten Therapeuten zu verweisen. Eifersucht? Prüfungsangst? Die dritte gescheiterte Beziehung hintereinander? "Mach doch mal 'ne Therapie!"

Natürlich kann der Besuch bei einem Menschen, von dem man sich Hilfe verspricht, zu einem wahren Segen werden. Aber doch nur dann, wenn man sich von der Vertrauensperson tatsächlich eine Deutung der eigenen Situation und einen Rat erhofft. Namen und Adressen eines Seelsorgers oder Therapeuten sollten also nur dann weitergereicht werden, wenn der Rat Suchende danach fragt. Ungebeten Therapien zu empfehlen ist eine unverschämte Zumutung. Hier erhebt sich einer über den anderen, schwingt sich in liebloser Weise zu einer pädagogisierenden Haltung auf und behauptet, mehr zu wissen als der andere.

Was eigentlich treibt Menschen dazu, andere ungefragt an Therapeuten zu "überweisen"? Diese Gesellschaft scheint generell ohne Beratung nicht mehr auszukommen. Wichtige Entscheidungen werden auf allen Ebenen delegiert. Es gibt kaum mehr etwas, für das es keine Kommission oder keinen schriftlichen Ratgeber gäbe. So genannte Experten sollen reparieren, renovieren und richten, was man meint, nicht selbst schaffen zu können. Auf diese Weise entsteht allenthalben ­ vom Privatleben bis hin zu Staatsgeschäften ­ eine Art Verschiebebahnhof, auf dem die, die eigentlich rangieren sollten, sich selbst aufs Abstellgleis manövrieren. Man fühlt sich für die Probleme, die an einen herangetragen werden, nicht mehr selber zuständig. Warum nicht?

Therapien sind keine Reparaturbetriebe

Überforderung kann ein Grund dafür sein, Menschen und ihre Konflikte weiterreichen zu wollen. Wenn die Freundin sich schon wieder einen verheirateten Familienvater angelacht hat, wenn der Bruder nur mit Panik auf den Balkon treten kann oder seit Monaten säuft, dann kommt man irgendwann an seine Grenzen. In solchen Fällen ist es gewiss sinnvoll, gemeinsam nach Wegen der Bewältigung zu suchen ­ Fachleute eingeschlossen. Die Betonung liegt auf "gemeinsam": Miteinander muss überlegt werden, wen man hinzuziehen könnte, um eine Krise oder andauernde Belastung genau in den Blick nehmen und sorgsam bearbeiten zu können. Gemeinsam -­ denn Therapien sind keine Reparaturbetriebe, aus denen man Menschen generalüberholt wieder in Empfang nehmen kann.

Soll es ein Pfarrer oder eine Pfarrerin sein, die sich Zeit für ehrliche und einfühlsame Gespräche nehmen? Es gibt Fragen, mit denen man beim Seelsorger vielleicht am besten aufgehoben ist. Etwa wenn man sich mit einer Schuld herumschlägt, die man sich selbst nicht vergeben kann. Oder wenn man in der Trauer um einen geliebten Menschen einen erfahrenen Seelsorger braucht. Und manchmal kann ein Dritter, Seelsorger oder Therapeut, "von außen" Dinge erkennen, die man selber oder die Familie gar nicht mehr wahrnimmt.

Dann muss geklärt werden, ob eine intensive Tiefenschau mit großem Zeitaufwand angebracht ist, um lange zurückliegende Ereignisse wieder ans Tageslicht zu holen und neu ins Leben zu integrieren. Oder ob Körperarbeit, kreatives Gestalten, Verhaltenstraining helfen könnten? Die Vielfalt der Hilfemöglichkeiten verlangt große Sorgfalt in der Auswahl. Ein hingehauenes "Mach doch 'ne Therapie" dagegen ist verantwortungslos, weil es das Gegenüber mit seinen ganz individuellen Fragestellungen nicht ernst nimmt.

Für andere da zu sein, mit ihnen zu reden und schwierige Lebensphasen mit auszuhalten

Man darf Hilfe Suchende nicht durch zackig-joviale Empfehlungen entmündigen. Man sollte aber auch sich selbst nicht der Chance berauben, für andere da zu sein, mit ihnen zu reden und schwierige Lebensphasen mit auszuhalten. Krisen gemeinsam durchzustehen, im Wortsinn sympathisch, mitleidend und liebevoll begleitend da zu sein, wenn Partner oder Freunde mit ihrem Tief kämpfen, ist eine Erfahrung, die man hinterher nicht mehr missen will. Nächtliche Telefonate, Blitzbesuche, einen heben gehen, zusammen weinen oder beten ­ alles das kann im Augenblick des Geschehens eine Strapaze sein. Auf Dauer gesehen wird eine gute Beziehung dadurch stärker: Man erfährt auch die dunkle Wahrheit des anderen, spürt kostbares Vertrauen, geht ein wesentliches Stück des Lebensweges mit und verändert sich dadurch gemeinsam.

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