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der Hand des Herrn für alle ihre Sünden. Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel erniedrigt...
Jedes Mal, wenn ich „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms höre, durchfährt mich beim zweiten Satz ein kalter Schauer, ähnlich dem, wenn mit einem Löffel in einem Topf gekratzt wird. Dumpfe Schläge der Pauke und kalte Streichertöne begleiten Sätze aus dem Propheten Jesaja, die der Chor singt: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.“ Die dumpfen Schläge rücken näher, die Streicher werden unruhiger, und der Chor wiederholt den Pianoeinsatz plötzlich sehr laut. Es fährt mir durch Mark und Bein.
Ein bezaubernder Kollege, dessen Liebenswürdigkeit und Gelehrsamkeit alle beeindruckten, ist vor wenigen Wochen mitten im Leben umgefallen – Herzinfarkt. Abgemäht wie das welke Gras auf den Wiesen im späten Herbst.
Im Berliner Novembernebel liegen unter den herbstlich gefärbten Blättern die Gräber derer, deren Tod ich nach Jahren immer noch nicht verwunden habe: mein Vater, der einfach während des Essens starb, ohne Vorwarnung, am helllichten Mittag; meine erste Liebe aus Konfirmandentagen; ein Klassenkamerad, mit dem es so schwierig wie interessant war; und viele andere Menschen, die mir nahe waren.
Ein „Aber“, in die vergängliche Welt gesprochen
„Alles Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume.“ Am Ende des Kirchenjahres, im Umfeld von Totensonntag und Volkstrauertag, wird mir das so unmittelbar deutlich wie selten sonst im Jahr.
Die Pauke schlägt langsamer. Die Streicher werden leiser. Plötzlich, nach einer kurzen Sekunde, setzt der Chor in ungeheuerer Lautstärke ein, und die Bläser, Orgel und alle Instrumente folgen mit großer Macht: „Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit.“ Und: „Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen. Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein.“
Wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken. Was hängt nicht alles an diesem „Aber“, dass es in unsere vergängliche Welt gesprochen wird und in unsere Trauer.
Dieses „Aber“ kann ich mir selbst nicht sagen, wenn ich an den Gräbern stehe oder melancholisch die Sätze des Propheten lese oder im „Requiem“ von Johannes Brahms höre. Glücklicherweise wird mir dieses „Aber“ immer wieder gesagt und gesungen. Der ganze Advent, der auf die traurige Schlusszeit des Kirchenjahres folgt, ist eine einzige große Inszenierung dieses „Aber“.
Zweifel habe ich allein. Die muss nicht noch jemand in mir wecken.
Wieder sind es biblische Texte und ihre Vertonungen, die gegen meine Verzweiflung über den allgegenwärtigen Tod so singen und sagen, dass mir warm ums Herz wird und ich getröstet werde: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.“ Bei Jesaja ging es ursprünglich nicht nur um individuellen Trost, sondern um das Ende der Knechtschaft des Volkes, um ein Abschleifen der Hindernisse in Welt und Leben, kurz: um die große Zurechtbringung aller persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn ich dieses große „Aber“, wenn ich diesen Trost im Advent nicht gesagt und gesungen bekomme, werde ich ganz ärgerlich.
Und da höre ich dann Jahr um Jahr (Jesaja 40,4): „Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden.“ – Natürlich erniedrigen sich Berge und Hügel nicht einfach von selbst, sondern höchstens wenn Bagger und Baumaschinen die Erdmassen verschieben. Und Täler erhöhen sich nur, wenn einer sie auffüllt. Aber wenigstens einmal im Jahr möchte ich mir gesagt sein lassen, dass Elend nicht Elend bleibt und Trauer nicht Trauer, und dass der Tod nicht das letzte Wort hat.
Zweifel habe ich allein. Die muss nicht noch jemand in mir wecken. Ich warte und darf hören, dass einer kommt. Wiederkommt. Und ich mich freuen kann. Auf den Advent.